Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
erhöht ihn. [116]
Da Aristoteles’ Universum ewig und nicht erschaffen war, musste al-Kindi ihn mit einem genau überlegten, logischen Argument widerlegen. Dazu wandelte er einen von Philoponus’ Beweisen für die Schöpfung des Universums ab, der sich auf den Gedanken von der Unmöglichkeit der Unendlichkeit gründete; danach hätte der gegenwärtige Augenblick nie erreicht werden können, wenn ihm eine unendliche Zeit vorausgegangen wäre, die aus einer ununterbrochenen, unendlichen Abfolge von Ereignissen besteht, denn diese hätte man nicht durchqueren können, um das »Jetzt« zu erreichen. Anders als Aristoteles führte al-Kindi einen mathematischen Nachweis für seine Ideen. Seine Argumentation lässt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Wenn man von einer unendlichen Menge ausgeht und von dieser eine endliche Menge A abzieht, ist die verbleibende Menge B entweder endlich oder unendlich. Wenn sie endlich ist und man zu ihr A wieder hinzufügt, erhält man eine weitere endliche Menge und nicht die ursprüngliche Unendlichkeit. Demnach kann B nicht endlich sein, sondern es muss unendlich sein. Zieht man aber die endliche Menge A von der unendlichen Menge ab, muss B ein kleinerer Anteil dieser Unendlichkeit sein. Und Anteile, so al-Kindi, müssen Grenzen haben. Sie können also nicht unendlich sein. Deshalb ist die ganze Vorstellung von einer unendlichen Menge absurd.
Heute wissen wir natürlich aus der Mathematik, dass al-Kindi unrecht hatte, denn es gibt tatsächlich Unendlichkeiten mit unterschiedlicher »Größe«. Man kann sogar eine Unendlichkeit von einer anderen abziehen, und der Rest ist immer noch unendlich. Nehmen wir beispielsweise die unendliche Menge aller ganzen Zahlen und subtrahieren davon die unendliche Menge aller geraden Zahlen. Dann haben wir immer noch die unendliche Menge aller ungeraden Zahlen.
Al-Kindis Begründung für die Unmöglichkeit unendlicher Mengen, auch einer unendlichen Zeit, führte ihn zu der Vorstellung, dass nicht nur das Universum nicht schon immer existiert haben kann, sondern dass es auch die Zeit vor der Erschaffung des Universums nicht geben konnte und dass die Zeit demnach mit dem Universum ins Dasein getreten war. Diese Idee ähnelt bemerkenswert stark den heutigen Kenntnissen der Kosmologie, wonach Raum und Zeit vor Milliarden Jahren durch den Urknall geboren wurden, wie es Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt. Außerdem versetzte die Vorstellung von einem endlichen Universum al-Kindi anders als Aristoteles in die Lage, sich auf Gott als Schöpfer der Welt zu berufen, der sie aus dem Nichts ins Sein treten lässt.
Hinter solchen philosophischen Gedanken steckte als Triebkraft die Theologie, aber al-Kindi war mehr als nur ein Philosoph. Wer schon al-Khwarizmi für vielseitig hält, weil er sich mit Astronomie, Geographie und Mathematik beschäftigte, der sollte von al-Kindis Leistungen noch weitaus stärker beeindruckt sein. Neben seinen philosophischen Schriften leistete er wichtige Beiträge zur Mathematik, Astronomie, Optik, Medizin, Musik und Kryptographie. Auch wenn es bis nahezu in die Neuzeit üblich war, dass Gelehrte ein ganzes Spektrum verschiedener Fachgebiete abdeckten, so waren doch nur wenige auf derart vielen Feldern zu Hause wie al-Kindi. Für ihn gilt das Gleiche wie für seinen Zeitgenossen al-Khwarizmi: Sein Einfluss auf spätere Generationen kennzeichnet ihn als ungeheuer wichtige Gestalt der Wissenschaftsgeschichte. In der Mathematik zum Beispiel wirkten beide entscheidend daran mit, die indischen Zahlen in die islamische und später in die christliche Welt einzuführen. Wie al-Khwarizmi, so schrieb auch al-Kindi ein wichtiges Buch über das Thema: Das Buch über die Benutzung Indischer Zahlen ( Kitab fi Isti’mal al-’Adad al-Hindi ).
In der Kryptographie wurde al-Kindi berühmt, weil er neue Ver- und Entschlüsselungsmethoden entwickelte oder zumindest die erste bekannte Beschreibung solcher Methoden lieferte. Außerdem wird ihm das Verdienst zugeschrieben, die Häufigkeitsanalyse entwickelt zu haben, eine Methode, bei der man die unterschiedliche Buchstabenhäufigkeit analysiert und zum Knacken einer Verschlüsselung ausnutzt. Ausführlich beschrieben werden seine Arbeiten in einem Text, den man 1987 im Sulaimaniyyah-Ottoman-Archiv in Istanbul wiederentdeckte. [117] Al-Kindis Motive für die Entwicklung seiner Erkenntnisse in der Verschlüsselungstechnik sind faszinierend: Sie erwuchsen offenbar aus seiner
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