Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
wurde als al-Razis Liber continens ) für die nächsten 600 Jahre als medizinisches Standardlehrbuch diente – eine außerordentliche lange Lebensdauer für einen wissenschaftlichen Text, insbesondere da er auch die Schriften von Galen und Hippokrates, den beiden Helden der griechischen Medizin, ersetzte. Bemerkenswert ist er, weil er eine Synthese aller medizinischen Kenntnisse aus Griechenland, Persien und Indien mit Ibn Sinas eigenen Arbeiten verbindet, so mit der Entdeckung und Erklärung ansteckender Krankheiten sowie einer detaillierten anatomischen Beschreibung des menschlichen Auges.
Ein Band des Kanon enthält einen Abschnitt über Knochenbrüche und ähnelt in manchen Aspekten einem modernen Lehrbuch: Er beschreibt Ursachen, Typen und Formen aller möglichen Brüche sowie Methoden zu ihrer Behandlung. Unter anderem setzte Ibn Sina sich als erster Arzt für die Theorie der verspäteten Schienung ein, wie wir sie heute kennen: Danach sollte man Brüche nicht sofort schienen, sondern erst nach einigen Tagen. Dies ist noch heute in der Medizin ein respektierter Gedanke. Außerdem erörterte er die Frage, wie man mit einem Bruch des ersten Mittelhandknochens im Daumen umgehen soll; dieser wird in modernen Lehrbüchern nach dem Mann, der ihn 1882, fast 900 Jahre nach Ibn Sinas Beschreibung, »entdeckte«, als »Bennett-Fraktur« bezeichnet.
Der Kanon (vom arabischen Qanun – das Wort bedeutet »Gesetz« und stammt seinerseits vom griechischen kanon ab) ist zwar Ibn Sinas berühmtestes Werk, aber nicht sein größter Beitrag zur Wissenschaft. Dieser Ruhm gebührt zweifellos dem Kitab al-Shifa , was üblicherweise mit Buch vom Heilen übersetzt wird. Im Gegensatz zum Kanon ist dies aber kein medizinischer Text; das Wort shifa bedeutet hier »Heilung« in dem Sinn, dass das Buch als allgemeines Nachschlagewerk des Wissens verfasst wurde, weil der Autor die Welt damit von der Krankheit der Unwissenheit heilen wollte.
Al-Shifa umfasste insgesamt neun Bände über Logik und acht über Naturwissenschaften. Weitere Bände behandeln Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Musik und natürlich die Metaphysik. In einem Abschnitt über Psychologie treffen wir beispielsweise auf eine von Ibn Sinas berühmtesten Überlegungen: das Gedankenexperiment mit dem »schwebenden Mann«. Darin widerlegt Ibn Sina den moralistischen Glauben früherer muslimischer Theologen, wonach unser physischer Körper das Einzige ist, was existiert. Zu diesem Zweck beschreibt er ein Szenario, das nach seiner Auffassung den immateriellen Charakter der menschlichen Seele beweist:
Angenommen, ein Mensch ist auf einmal erschaffen, vollständig entwickelt und vollkommen geformt, aber seinem Blick ist die Wahrnehmung aller äußeren Objekte verwehrt – er ist in der Luft oder im Raum schwebend erschaffen und wird nicht von wahrnehmbaren Strömungen der Luft getroffen, die ihn trägt. Seine Gliedmaßen sind getrennt und berühren sich nicht, so dass sie sich gegenseitig nicht spüren. Dann lassen wir den Betreffenden überlegen, ob er die Existenz seiner selbst bestätigen würde. Es besteht kein Zweifel, dass er seine eigene Existenz bestätigen würde, nicht aber die Realität irgendwelcher Gliedmaßen oder innerer Organe.
Wer dies also bestätigt, hat ein Mittel, welches ihn auf die Existenz seiner Seele als etwas anderes als den Körper aufmerksam macht, aber auch darauf, dass er unmittelbar mit seiner Existenz vertraut und sich ihrer bewusst ist. [167]
Über die Frage, in welchem Umfang diese Idee spätere Denker beeinflussen sollte, beispielsweise im 17. Jahrhundert den frühneuzeitlichen Philosophen René Descartes, kann man nur spekulieren. Descartes’ unsterbliche Worte Cogito, ergo sum (»Ich denke, also bin ich«) über den Leib/Seele-Dualismus kommen jedoch Ibn Sinas Überlegungen bemerkenswert nahe; und wie allgemein bekannt ist, bauten andere, unter ihnen David Hume, ihre Argumentation auf dem schwebenden Mann auf.
Einfacher gesagt, unternahm Ibn Sina den Versuch, ein allumfassendes metaphysisches Modell der Realität aufzubauen, das ihn in die Lage versetzen sollte, die Existenz Gottes mit logischen Mitteln zu beweisen. Er hatte zwar die Werke von Aristoteles und Platon studiert, war aber zweifellos der originellste Philosoph des Mittelalters. Moderne Historiker teilen die mittelalterliche Philosophie sogar in zwei Epochen ein: Die eine vor Ibn Sina, mit islamischen Philosophen wie al-Kindi, al-Razi und al-Farabi, beschäftigte sich im
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