Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur (German Edition)
Wesentlichen mit der Abwandlung und Erweiterung der aristotelischen Lehre sowie mit der Kritik an ihr; nach Ibn Sina gingen Philosophen wie al-Ghazali und Ibn Rushd dann daran, den Avicennismus (die Philosophie Ibn Sinas) abzuwandeln, zu erweitern und zu kritisieren. Ich würde behaupten: So wie man Ibn al-Haytham als den größten Physiker der Welt in der Zeit zwischen Archimedes und Newton betrachten sollte, so war Ibn Sina der herausragende Philosoph zwischen Aristoteles und Descartes. Seine Synthese aus Philosophie und islamischer Theologie beeinflusste spätere jüdische und christliche Gelehrte wie Maimonides im 12. Jahrhundert sowie Roger Bacon und Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert.
Ibn Sinas härtester Kritiker war der Theologe al-Ghazali (1058–1111), der in seinem berühmten Werk Die Inkohärenz der Philosophen ( Tahafut al-Falasifa ) die aristotelische Vorgehensweise von Ibn Sina als Islamfeindlichkeit angegriffen hatte. Sein Werk sollte aber nicht das letzte Wort zu dem Thema sein: Der andalusische Philosoph Ibn Rushd schrieb eine ausgezeichnete Verteidigung Ibn Sinas und der aristotelischen Philosophie; seiner ätzenden Entgegnung auf al-Ghazali gab er den Titel Die Inkohärenz der Inkohärenz ( Tahafut al-Tahafut ).
Es ist nicht verwunderlich, dass Ibn Sina heute im Iran als Nationalheld verehrt wird, und in vielen Ländern auf der ganzen Welt findet man unzählige Schulen und Krankenhäuser, die nach ihm benannt sind. Sein Vermächtnis erstreckt sich aber noch weiter: Auf dem Mond gibt es einen Krater namens Avicenna, und 1980 feierten alle Mitgliedsstaaten der Unesco Ibn Sinas 1000. Geburtstag. Als Philosoph wird er als Aristoteles des Islam bezeichnet; als Arzt ist er der islamische Galen.
Aber al-Biruni war der bessere Naturwissenschaftler. Er nahm gegenüber Aristoteles einen kritischen Standpunkt ein und vertrat die Ansicht, der Grieche sei häufig zu falschen Schlussfolgerungen gelangt, weil er sich ausschließlich auf reines Denken und Vernunft verlassen hatte. Al-Biruni setzte sich stattdessen für eingehende Beobachtungen und wissenschaftliche Experimente ein, mit denen er Aristoteles’ Überlegungen überprüfen wollte. Mit dieser sorgfältigen empirischen Vorgehensweise gelangte er in Physik und Astronomie zu zahlreichen eindrucksvollen Entdeckungen. Er war auch ein außergewöhnlich guter Mathematiker und entwickelte Verfahren zur Lösung kubischer Gleichungen sowie zum Ziehen kubischer und höherer Wurzeln. Auch die Trigonometrie brachte er, ausgehend von den früheren Arbeiten des hervorragenden persischen Mathematikers Abu al-Wafa’ (940–998), weiter voran.
Eine wichtige Anwendung seiner mathematischen Erkenntnisse war die Lösung des qibla -Problems, das heißt die Bestimmung der Richtung nach Mekka. Sie war jedes Mal erforderlich, wenn irgendwo im islamischen Großreich eine neue Moschee gebaut wurde. Man musste dazu die genauen Längen- und Breitengrade aller Städte kennen und außerdem die sphärische Geometrie beherrschen. In allen diesen Bereichen hatte al-Biruni nicht seinesgleichen.
In seinem berühmten, um 1031 vollendeten Mas’udi-Kanon wandte al-Biruni mathematische Verfahren an, die zuvor noch nie jemand benutzt hatte; unter anderem entwickelte er erste, einfache Methoden der Infinitesimalrechnung, um damit die Bewegung und Beschleunigung der Himmelskörper zu beschreiben. Auf diese Weise schuf er die Voraussetzungen für die Bewegungsgesetze, die Newton mehr als 600 Jahre später in den Principia Mathematica formulierte.
Obwohl al-Biruni überragendes Vertrauen in seine eigenen Fähigkeiten hatte und angenehme Beziehungen mit verschiedenen Herrschern pflegte, die ihm ihre Schirmherrschaft angedeihen ließen, mochte er sich nicht mit dem Establishment anlegen: Er schloss sich bereitwillig der orthodox-religiösen Linie seiner Herren an. Unter anderem schwärzte er al-Razi wegen dessen Religionskritik an und ging sogar so weit zu behaupten, die Erblindung des alternden Arztes sei eine göttliche Strafe für seine Ketzerei. Ob es sich dabei um die Äußerung eines rationalen Genies handelte, das sich hinter einer konservativ-religiösen Maske verbarg, oder ob al-Biruni schlicht ein gläubigerer Muslim war als al-Razi (was nicht allzu schwierig gewesen sein dürfte), werden wir vermutlich nie erfahren. Ebenso war al-Biruni kein begeisterter Politiker, aber die Notwendigkeiten seines unruhigen Lebens zwangen ihn, sich in Staatsangelegenheiten einzumischen. Berühmt
Weitere Kostenlose Bücher