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Im Haus des Wurms

Im Haus des Wurms

Titel: Im Haus des Wurms Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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große Fenster und fühlte, wie die schreckliche Dunkelheit ihr Gewicht auf ihre Schultern ablud. »Ich kann nicht, Morgan. Ich bin eine Carin, und du gehörst nicht zur Familie. Ich kann nicht!«
    »Die Versammlung«, flüsterte Morgan, »stell dir vor, das hier sei die große Versammlung, Shawn. Du warst immer meine Liebhaberin während der
    Ratsversammlungen.«
    Shawns Kehle war wie ausgedörrt. »Aber das hier ist nicht die Versammlung«, beharrte sie. Sie hatte einmal eine Versammlung erlebt, unten am Meer, wo vierzig Familien zusammengekommen waren, um Nachrichten, Waren und Liebe auszutauschen. Aber das war Jahre vor ihrer Blutung gewesen, und so hatte niemand sie ausgewählt; Shawn war noch immer keine Frau und daher unberührbar. »Das hier
    ist nicht die
    Versammlung«, wiederholte sie und war den Tränen nahe.
    Morgan kicherte. »Also gut, ich bin keine Carin, aber ich bin Morgan, die Zauberin. Ich kann eine Versammlung machen.« Auf blanken Füßen schoß sie durch den Raum und drückte wieder ihre Ringe gegen die Wand. Sie drückte mal hier und mal dort, nach einem ganz seltsamen Muster. Dann rief sie laut: »Sieh hin!

    Dreh dich um und sieh!« Shawn war völlig verwirrt, starrte aber wieder auf das Fenster.
    Unter der Doppelsonne des Hochsommers lag die Welt da, hell und grün. Langsam bewegten sich Segelschiffe auf den träge dahinfließenden Flüssen. Shawn sah, wie das helle Licht der Doppelsonnen beim Tanzen und Rollen ihres Himmelslaufs reflektiert wurde: zwei Bälle wie weiche, gelbe Butter, die hoch oben im Blau trieben.
    Selbst der Himmel wirkte süßlich und wie aus Butter; weiße Wolken bewegten sich wie die erhabenen Schoner der Familie Carin. Und nirgendwo war mehr ein Stern zu sehen. Das jenseitige Ufer war von Häusern übersät, Häuser so klein wie ein Weghäuschen, und Häuser, größer noch als Carinhall. Türme, hoch und so glatt, wie die windgemeißelten Steine der Zerbrochenen Berge. Da und dort und überall dazwischen bewegten sich Leute; graziöse, dunkelhäutige Menschen, die Shawn nicht kannte, und auch Leute aus den Familien, alle verkehrten untereinander. Das Steinfeld war nicht mehr von Eis und Schnee bedeckt, aber überall standen Metallgebilde, einige größer, viele kleiner als Morganhall, doch jedes hatte sein eigenes charakteristisches Aussehen, und alle standen auf drei Beinen. Zwischen den Gebilden waren die Zelte und Buden der Familien aufgebaut und mit Wappen und Bannern geschmückt. Und dort befanden sich auch die Matten, die stimulierend bemalten Liebesmatten. Shawn entdeckte Paare, die sich liebten, und fühlte, wie Morgans Hand sich sanft auf ihre Schulter legte.
    »Erkennst du das, was du dort siehst, Carinkind?«
    flüsterte Morgan.
    Shawn drehte sich zu ihr um – Furcht und Verblüffung standen in ihren Augen. »Es ist eine Versammlung.«

    Morgan lächelte. »Siehst du«, sagte sie, »es ist eine Große Versammlung, und ich begehre dich. Komm und feiere mit mir!« Morgans Finger bewegten sich zur Schnalle von Shawns Gürtel, und das Mädchen wehrte sie nicht ab.

    Innerhalb der metallenen Wände von Morganhall verwandelten sich die Jahreszeiten zu Stunden, zu Jahren, zu Tagen, zu Monaten, zu Wochen und wieder zu Jahreszeiten. Die Zeit hatte ihre Bedeutung verloren. Als Shawn auf dem zottigen Fell erwachte, das Morgan unter dem Fenster ausgebreitet hatte, hatte der Hochsommer sich in den Tiefwinter gewandelt, und die Familien, die Schiffe, die ganze Versammlung war verschwunden. Das Morgengrauen kam früher als erwartet, und Morgan, die davon irritiert schien, wandelte es in Dämmerung um.
    Jetzt war Frostzeit, mit ihrer allmächtigen Kälte; wo sich ehedem noch die Sterne des Sonnenaufgangs gezeigt hatten, stürmten jetzt graue Wolken über einen kupferfarbenen Himmel. Sie setzten sich nieder und aßen, während das Kupfer sich in Schwarz verwandelte.
    Morgan servierte Pilze, knackiges Sommergemüse, dunkles, heißes Brot, von dem Honig und Butter tropften, Gewürztee mit Milch und dicke Scheiben roten Fleisches, von denen das Blut troff. Zum Nachtisch gab es wohlriechendes Eis mit Nüssen, und ganz zum Schluß ein heißes Getränk mit neun Schichten: jede hatte eine andere Farbe und einen anderen Geschmack. Sie tranken in kleinen Schlucken aus Gläsern, die aus undenkbar dünnem Kristall gemacht waren, und Shawn bekam davon Kopfschmerzen. Shawn begann zu weinen, denn das Essen war ihr real vorgekommen und hatte gut geschmeckt; doch sie fürchtete, daß

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