Im Herzen der Nacht - Roman
gnädig sein, Kleiner. Niemand sonst wird dir jemals Gnade erweisen.«
AUF DEM OLYMP
Ash näherte sich Artemis’ heiligem Tempel und öffnete das überdimensionale Doppeltor mit seinen Gedanken. Den Kopf hoch erhoben, umfasste er den gepolsterten Riemen seines Rucksacks aus schwarzem Wildleder und zwang sich, durch die reich geschnitzte, vergoldete Tür den Thronsaal der Göttin zu betreten, wo sie dem Gesang und dem Lautenspiel einer Dienerin lauschte.
Neugierig wandten sich neun weibliche Augenpaare zu dem Besucher. Ohne einen Befehl abzuwarten, sammelten die acht Dienerinnen ihre Sachen ein und eilten aus dem Saal, so wie immer, wenn er erschien. Diskret schlossen sie die Tür hinter sich und ließen ihn mit Artemis allein.
Vage erinnerte er sich an das erste Mal, als sie ihn in ihrer privaten Domäne auf dem Olymp empfangen hatte. Die kunstvoll verzierten Marmorsäulen des Thronsaals hatten ihn tief beeindruckt. Sechs Meter hoch ragten sie vom vergoldeten Marmorboden bis zur goldenen Kuppel mit den Reliefs, die Szenen aus Fauna und Flora zeigten. An drei Seiten fehlten die Wände in diesem Raum, und man blickte auf einen tiefblauen Himmel, wo flaumige, weiße Wolken in Augenhöhe vorbeischwebten.
Der Thron war nicht so kunstvoll verziert, aber sehr bequem. Eher eine überdimensionale Chaiselongue, die einem Doppelbett glich, nahm sie das Zentrum des Raums ein, mit üppigen, elfenbeinfarbenen Kissen voller goldener Quasten und Rüschen bedeckt.
Nur zwei Männer hatten diesen Tempel jemals betreten dürfen - Artemis’ Zwillingsbruder Apoll und Acheron.
Auf diese Ehre hätte Ash gern verzichtet.
Artemis trug einen weißen Peplos, der nichts von ihren Reizen verbarg. Deutlich zeichneten sich die rosigen Brustwarzen unter dem dünnen Stoff ab, und der bis zu den Hüften hochgezogene Saum enthüllte das dunkelrote Dreieck zwischen ihren Schenkeln.
Verführerisch lächelte sie ihn an und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihr makellos schönes Gesicht. Die langen, kastanienroten Locken schimmerten so irisierend wie die grünen Augen, während sie ihn fasziniert beobachtete. Sie lag auf der Seite, die Arme über der Lehne der Chaiselongue, das Kinn auf einem Handrücken.
Als Ash zu ihr ging, musterte sie ihn hungrig. »Interessant... Du siehst rebellischer aus denn je, Acheron, ich entdecke keine Spur von der unterwürfigen Hingabe, die du mir versprochen hast. Muss ich mir Talons Seele zurückholen?«
Er war sich nicht sicher, ob ihre Macht dafür ausreichte. Doch er wollte nichts riskieren. Nur ein einziges Mal hatte sie ihm einen Bluff vorgeworfen, und das büßte er immer noch. Er nahm seinen Rucksack von der Schulter und ließ ihn zu Boden fallen. Danach schlüpfte er aus seiner Lederjacke, legte sie auf den Rucksack und kniete nieder. Die Hände auf den muskulösen, von Leder umhüllten Schenkeln, senkte er zähneknirschend den Kopf.
»Danke, Acheron.« Sie stand auf und ging hinter ihn, strich durch sein Haar und färbte es blond. Langsam zog sie das geflochtene Band heraus, sodass die Haare auf seine Schultern herabfielen. Dann tat sie, was er am allermeisten hasste - sie blies auf seinen Nacken.
Aber er bezwang den Impuls, sich zu krümmen. Nur sie allein wusste, warum er dieses Gefühl verabscheute. Mit ihrer grausamen Geste erinnerte sie ihn an den Platz, den er auf dieser Welt einnahm.
»Trotz allem, was du denken magst, Acheron, bereitet es mir kein Vergnügen, dich meinem Willen zu unterwerfen. Es gefiele mir viel besser, du würdest aus eigenem Antrieb zu mir kommen. So wie früher.«
Gepeinigt schloss er die Augen. Damals hatte er sie heiß geliebt und jedes Mal gelitten, wenn er gezwungen worden war, sie zu verlassen. Er schenkte ihr, was er jedem anderen verwehrte - sein Vertrauen. Sie war seine Welt. Seine Zuflucht.
Zu einer Zeit, als ihn niemand anerkannte, hieß sie ihn willkommen und zeigte ihm, wie es sich anfühlte, erwünscht zu sein. Gemeinsam lachten sie und liebten sich. Mit ihr teilte er Dinge, die sonst niemand kannte. Doch als er sie am dringendsten gebraucht hätte, kehrte sie ihm kaltherzig den Rücken und ließ ihn qualvoll sterben. An jenem Tag hatte sie seine Liebe verschmäht und ihm bewiesen, dass sie sich seiner genauso schämte wie seine Familie.
Er bedeutete ihr nichts. Niemals würde er ihr etwas bedeuten.
Inzwischen hatte er sich mit dieser schmerzlichen Tatsache abgefunden. Für Artemis war er nur eine Kuriosität, ein trotziges Schoßhündchen, das sie
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