Im Herzen der Nacht - Roman
schlichte, wahrheitsgemäße Erklärung. »Um den Papierkram zu erledigen, muss man tagsüber zu einer Behörde gehen. Da ich das Sonnenlicht nicht vertrage...«
Skeptisch starrte sie ihn an. »Bist du sicher, dass du kein Vampir bist?«
»Bis ich dich sah, war ich’s nicht.«
»Und das heißt?«
Nun trat er dicht vor sie hin, und sie musste den Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufzuschauen. Seine Kinnmuskeln bebten, sein Körper sehnte sich fast verzweifelt nach ihr. »Dass ich am liebsten meine Zähne in deine Haut graben und dich verschlingen würde.«
Aufreizend biss sie auf ihre Unterlippe. »Hmmm, wenn du so redest, gefällt es mir.«
Dann sank sie in seine Arme. Sofort fing sein Blut Feuer, sein Mund presste sich auf ihren. Stöhnend erwiderte sie den Kuss. Warum fand sie diesen Mann so wahnsinnig sexy?
Abrupt trat er zurück. Vor lauter Enttäuschung zog sie einen Schmollmund. »Beeilen wir uns«, schlug er vor. »Bald wird der Morgen grauen, und die Fahrt zu meiner Hütte ist noch ziemlich weit.«
»Zu deiner Hütte?«
»Du wirst sie schon noch sehen.« Er wandte sich ab, sprang in einen Katamaran und startete ihn. Nachdem sie sich hineingesetzt und angeschnallt hatte, verließen sie die Garage, und das Boot glitt ins unheimliche Dunkel des Sumpfs hinaus. Der Motor dröhnte so laut, dass Sunshines Ohren schmerzten. In der Finsternis sah sie überhaupt nichts. Wie konnte Talon den Katamaran steuern? Das verstand sie nicht, und sie erwartete, sie würden jeden Moment gegen einen Baum oder eine Wurzel prallen.
Aber er manövrierte das Boot mühelos, ohne zu zögern, ohne das Tempo zu drosseln.
Nach ein paar Minuten gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, sie sah einzelne Konturen und Sumpfgaswolken. Einige Dinge erschienen ihr wie große Tiere, die ins Wasser fielen. Wäre sie doch besser blind geblieben …
Endlich erreichten sie eine kleine, isolierte Hütte in der
Tiefe des Bayous. Abgeschieden und einsam. Vom Verandadach hingen Flechten herab, das alte Holz hatte sich zu hellem Grau verfärbt, das sogar im nächtlichen Dunkel schimmerte. Talon steuerte den Katamaran zu einer kleinen Landebrücke, sprang auf die Bretter und half Sunshine auszusteigen. Als sie ihm den schmalen Steg entlang zur dunklen Veranda folgte, entdeckte sie zwei Alligatoren vor der Tür und stieß einen schrillen Schrei aus.
»Pst«, mahnte er und lachte leise, »da gibt’s nichts zu befürchten.«
Zu ihrer Verblüffung bückte er sich und tätschelte den Kopf des größeren Alligators. »Hi, Beth, wie geht’s heute Nacht?« Da riss der Alligator das Maul auf und zischte ihn an, als hätte er die Frage verstanden. »Ja, ich weiß, mein Mädchen. Tut mir leid, ich hab’s vergessen.«
»Wer bist du? Dr. Doolittle?«
Da lachte er wieder. »Nein. Diese beiden fand ich, als sie winzig klein waren, und zog sie groß. Jetzt sind wir eine Familie. Ich kenne sie schon so lange, dass ich beinahe ihre Gedanken lesen kann.«
Auch in Sunshines Familienstammbaum gab es Reptilien, aber die gingen auf zwei Beinen. Das Alligatorenweibchen watschelte heran und musterte sie lüstern, als wäre sie das Tagesangebot im Crocodile Café. »Irgendwie habe ich das Gefühl, sie mag mich nicht.«
»Sei brav, mein Mädchen«, mahnte Talon. Beth schwenkte ihren Schwanz umher. Dann trottete sie von der Veranda und platschte ins Sumpfwasser. Nachdem das andere Krokodil einen kurzen Blick in Sunshines Richtung geworfen hatte, ließ es die Zähne klappern und folgte seiner Freundin.
Talon öffnete die Hüttentür und knipste eine schwache
Schreibtischlampe an. Zögernd trat Sunshine ein und fürchtete, er wäre ein ebenso miserabler Hausmann wie ihr Bruder.
Oder in diesem Domizil würden noch schlimmere Bestien lauern als die Alligatoren. Vielleicht eine Monster-Anakonda, die er mit ihr füttern wollte …
Die Hütte war erstaunlich groß. So hatte sie, von außen betrachtet, nicht ausgesehen. An der linken Seite des Raums lag eine kleine Kochnische. Die Tür zur Rechten führte vermutlich in ein Bad. Auf drei Tischen standen Computer und andere elektronische Geräte, im Hintergrund lag ein schwarzer Futon am Boden.
Zum Glück wirkte das Zimmer ordentlich und sauber. Wie erfreulich, dass nicht alle Männer solche Ferkel waren wie ihre Brüder. »Ein interessantes Quartier, Talon! Am besten gefallen mir diese leeren schwarzen Wände.«
Ihr ironischer Ton bewog ihn, verächtlich zu seufzen. »Und das aus dem Mund einer Frau, die in
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