Im Herzen der Zorn (German Edition)
Mythologie . Sie tippte die beiden Begriffe in die Suchmaske des elektronischen Katalogs. Es erschienen nur vier Treffer, allesamt in der Abteilung für Altphilologie im entfernt gelegeneren Bereich der Bibliothek. Sie notierte sich die Signaturen, nahm ihre Tasche und ging hinüber zu den Regalen. Dabei fühlte sie sich erleichtert – irgendwie gestärkt.
Sie fand die Bücher im hintersten Eck der Regalreihen und gönnte sich einen Moment, um die schweren Einbände und den modrigen Geruch zu genießen. Sie liebte alte Bücher. Sie wählte eines aus und begann, darin zu blättern. Die Furien wurden nur am Rande erwähnt, in einem Kapitel über die Sirenen in der griechischen Mythologie – schöne Fabelwesen, die Seefahrer anlockten und in den vorzeitigen Tod durch Ertrinken trieben. Em stellte das Buch zurück ins Regal und nahm das nächste und wieder das nächste und fuhr mit dem Finger an den Stichwortverzeichnissen entlang. Sie fand nicht viel. Eine kurze Erwähnung hier, eine kleine Notiz im Anhang da.
Mit dem vierten Buch landete sie jedoch einen Volltreffer. Ein ganzes Kapitel, das sich nur mit den Furien beschäftigte – ihr Ursprung, ihre Rolle in der Mythologie, ihre Erscheinungsform in Sagen und Erzählungen. Sie ließ sich an Ort und Stelle nieder, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Regal und begann, sich darin zu vertiefen. Als die Stunde zu Ende war, beschloss sie, das Klingeln zu ignorieren – Französisch konnte sie später nachholen. Am liebsten wäre sie den ganzen Nachmittag in der Bibliothek geblieben oder wenigstens noch während der Mittagspause, damit sie nicht gezwungen war, sich zwischen Gabby und Drea entscheiden zu müssen. Sie zog einen Müsliriegel aus der Tasche und machte es sich gemütlich.
Den Ausführungen in dem Buch zufolge waren manchmal ganze Städte und Gemeinden betroffen, wenn die Furien in Erscheinung traten. Im Lauf der Jahrhunderte hatte man sie für alles Mögliche verantwortlich gemacht, angefangen bei Dürren und Epidemien bis hin zu Massenmorden, wobei die katastrophalen Auswirkungen immer bei dem Vergehen eines Einzelnen oder einer Gruppe ihren Anfang nahmen. Dadurch heraufbeschworen, streckten die Rachegöttinnen ihre Tentakel immer weiter aus, oftmals zu Unrecht. Waren die Furien erst einmal auf den Plan gerufen, schienen sie durch nichts mehr zu stoppen. Sie wollten mehr. Mehr Rache. Mehr Leid. Sie verschwanden erst wieder, wenn sie genug davon hatten. Manche glaubten, dass sie von jemandem, der auf Rache aus war, ausdrücklich herbeigerufen werden mussten, andere Mythen behaupteten, sie erschienen mitunter auch von selbst. Und in einer Abhandlung las Em Folgendes: Hatten die Furien das Gefühl, ihr Ziel verfehlt zu haben, stieg ihr Zorn ins Unermessliche.
Em zitterte. Wieder einmal kam ihr Chase in den Sinn. Wie schuldig er sich wegen dem, was er Sasha angetan hatte, fühlte … und dann tot unter der Brücke, eine rote Orchidee im Mund. Und ihre eigene Strafe, weil sie Gabbys Freundschaft und Vertrauen verraten hatte: JD zu verlieren, womöglich für immer.
Würden die Furien ihre Wut noch weiter ausdehnen?
Würden sie nicht nur Ems Leben in Chaos stürzen, sondern ganz Ascension?
Sie versuchte, sich auf die Worte zu konzentrieren, doch sie verliefen ineinander wie Wasserfarbe, die man draußen im Regen stehen gelassen hatte. Da stach ihr ein Begriff ins Auge: Wiedergutmachungsritual . Sie setzte sich aufrechter hin.
Da stand: Obwohl nicht belegt, wird in zahlreichen historischen Texten berichtet, dass die Furien durch ein rituelles Bußetun besänftigt werden können .
Besänftigt. Das bedeutete, sie würden verschwinden, oder? Em blätterte um und war enttäuscht, dass in dem Buch nirgends stand, wie das Ritual genau aussah. Trotzdem schöpfte sie Hoffnung. Vielleicht gab es ja wirklich eine Möglichkeit, die Furien zu vertreiben. Sie musste nur noch herausfinden, was es war.
Voll neuer Energie schob sie das Buch zurück an seinen Platz und kritzelte Wiedergutmachung in ihr Tagebuch. Als sie die Bibliothek verließ, klingelte es zur nächsten Stunde. Sie ging einen Schritt schneller.
»Drea!« Em lehnte sich in den Umkleideraum, wo die Mädchen sich gerade für den Sportunterricht umzogen. Das hier konnte nicht bis nach der Schule warten.
Drea zuckte zusammen, sichtlich erschrocken. Ihr T-Shirt hing halb über dem Kopf und gab den Blick auf einen für sie völlig untypischen, zarten weißen BH frei. »Mein Gott, Em! Spionierst du mir
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