Im Herzen der Zorn (German Edition)
quälte sich durch die sechste und siebte Stunde und plante, die letzte zu schwänzen, um zu Dreas Haus zu fahren. Als alle anderen in die achte Stunde hasteten, steuerte sie deshalb auf ihren Spind zu – der Himmel spie einen stürmischen Winterregen aus und sie brauchte ihren Mantel.
Als sie an der Bibliothek vorbeikam, fiel es ihr wieder ein: das Buch. Crow hatte ihr erzählt, dass es vielleicht Sasha Bowlder gewesen war, die Wie beschwöre ich die Furien gestohlen hatte. Es war reine Spekulation, aber …
Vor ungefähr einem Monat hatte Drea Em Sashas Spind gezeigt. Die Schulverwaltung hatte die Schmierereien darauf beseitigt (HEXE und PSYCHO), aber Drea war sich nicht sicher gewesen, ob auch jemand den Spind geöffnet und den Inhalt herausgenommen hatte.
»Vielleicht lass ich mir irgendwann mal von Fount dabei helfen, ihn aufzubrechen«, hatte sie damals gesagt und Em, die sofort durch den Gedanken an JDs fähigen Geist und geschickte Hände abgelenkt gewesen war, hatte genickt.
Die achte Stunde war erst in fünfunddreißig Minuten zu Ende. Sie hatte gerade noch genügend Zeit.
Em eilte zum Geschichtstrakt und suchte den sauber geschrubbten Spind mit den weißlichen Stellen, wo vorher die Beleidigungen gestanden hatten. Sie kramte in ihrer Tasche nach der Geldbörse und zog ihren Bibliotheksausweis heraus. Was wäre besser geeignet, um ein vermisstes Buch zu befreien?
Em schob die Karte an der Stelle hinein, wo sich die Verriegelung befand, und begann, sie hin- und herzubewegen. Nichts. Warum sah das in Krimis immer so einfach aus? Sie trat zur Begutachtung einen Schritt zurück. Wenn sie sie vielleicht benutzte, um das Zahlenschloss aufzuhebeln? Kurz davor aufzugeben, ruckelte sie die Karte noch ein letztes Mal in dem Schlitz … und hörte ein Klicken. Sie hielt die Luft an.
Mit einem lauten Quietschen schwang die Tür auf. Em blickte rasch um sich, um sicherzugehen, dass niemand im Flur war, der Zeuge ihres Einbruchs werden konnte. Dann wandte sie sich wieder dem Spind zu und schnappte nach Luft. Da lagen Sashas Sachen – überall verstreut, wie in den Spinden der meisten Schüler. Irgendetwas an dem Durcheinander erfüllte Em jedoch mit plötzlicher Trauer. Sie war genau wie wir alle . Und dann, eines Tages, war sie fort.
Em versuchte, den Kloß herunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte, und bückte sich zitternd, um einige der alten Schulbücher und einen zusammengeknüllten schwarzen Pullover aufzuheben, den sie Sasha in ihrer Erinnerung noch tragen sah. Und da lag es: ein Buch in festem Ledereinband mit erhabenen Lettern auf dem Deckel. Wie beschwöre ich die Furien .
Em bekam große Augen. Sie sah nach rechts und nach links, der Korridor war noch immer verlassen. Mit klopfendem Herzen nahm sie das Buch – das Buch, das Sasha so dringend haben wollte, dass sie dafür gestohlen hatte – aus dem Spind und schloss leise die Tür. Sie hielt das Leder fest umklammert und marschierte entschlossen, ja sogar stolz, aus dem Gebäude.
Drea war nicht bei sich zu Hause. Nächster Halt: das Powerflower. Inzwischen war die Schule aus und der Parkplatz begann, sich langsam mit Autos zu füllen. Die Fenster des Cafés waren von der Hitze und der Wärme der Körper im Inneren ganz beschlagen. Als sie durch die Flügeltür trat, überflog sie mit dem Blick die niedrigen Sessel und Sofas. Keine Spur von Dreas lilafarbenen Locken, ihrem halb rasierten Schädel oder ihrem Reibeisenlachen. Em machte auf dem Absatz kehrt und steuerte wieder auf ihr Auto zu, wobei sie eine Zeitung als Kopfbedeckung benutzte (in ihrer Aufregung wegen des Buches hatte sie ihren Regenmantel in der Schule vergessen). Sie musste nach Hause, um sich wieder zu sammeln, um sich das Buch anzuschauen und um sich einen neuen Plan zu überlegen.
Doch als sie bei ihrem verschlossenen Auto ankam und in ihrer Tasche nach dem Schlüssel kramte, konnte sie ihn nicht finden. Mach keine Witze , dachte sie und spähte zum Fenster auf der Fahrerseite hinein. Da lag er, mitten auf dem Sitz. Ganz toll. Jetzt saß sie im gefrierenden Regen am Powerflower fest.
Mit beschämtem Kopfschütteln wählte sie die Nummer des Automobilclubs. Dann verschwand sie wieder im Schutz des Cafés, um dort zu warten.
Kaum drinnen, wünschte sie, sie hätte dem heftigen Verlangen nach Koffein widerstanden. Denn als sie in der Schlange stand, tippte ihr jemand auf die Schulter.
Sie drehte sich um. Crow hatte sich in voller Größe vor ihr aufgebaut. Er
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