Im Herzen der Zorn (German Edition)
paarmal gesehen. Wenn sie sprach, kam der typische Maine-Akzent durch, den man im Süden des Bundesstaates selten hörte – sie zog manche Laute in die Länge, während sie um andere herum den Mund spitzte.
»Ja, das bin ich.« Em deutete auf ihren Bademantel. »Ich, ähm, komme gerade aus der Dusche«, fügte sie noch hinzu, als wäre sie Chases Mom eine Erklärung für ihren Aufzug schuldig.
»Ich musste dich im Telefonbuch suchen«, sagte Mrs Singer und klang erleichtert.
»Es ist, ähm, nett, Sie zu sehen, Mrs Singer«, erwiderte Em. Was wollte Mrs Singer? Was sollte Em zu ihr sagen? »Ich hoffe … ich hoffe, es geht Ihnen gut. Möchten Sie vielleicht reinkommen?«
Sie trat zur Seite, gab den Blick ins Haus frei und zuckte zusammen, als sie mitten im Flur das Steakmesser vor der Treppe liegen sah.
»Nein, danke.« Chases Mom machte eine Kinnbewegung in Richtung eines Pappkartons zu ihren Füßen. Ein spiralgebundenes Notizbuch lugte heraus. Em erkannte es sofort. »Ich bin nur noch einmal für ein paar Tage in der Stadt, um unsere Wohnung – den Wohnwagen auszuräumen.«
Em nickte und dachte an den Abend, als sie Chase dort nach seiner Schlägerei mit Zach am Galvin’s Pond getroffen hatte. Sie erinnerte sich an die enge Küche, die verdreckte Arbeitsplatte, den abblätternden Linoleumfußboden. Wie Chases muskulöser Körper ihr zu groß für diesen kleinen Raum erschienen war.
»Ich gehe für immer weg«, fuhr Chases Mom fort und schob sich die grau melierten Haare hinter die Ohren. »Ich ziehe nach Pennsylvania. Da wohnt meine Schwester. Jedenfalls hab ich Chases Zimmer durchgesehen …« An der Stelle stockte ihre Stimme und Em geriet in Panik. Was sollte sie nur tun, wenn Eileen Singer jetzt auf ihrer Türschwelle anfing zu weinen? Aber der Zusammenbruch blieb aus. Mrs Singer räusperte sich und sprach weiter. »Hier sind ein paar von … seinen Sachen. Das Wichtigste habe ich behalten. Aber in dem Notizbuch stand dein Name. Also dachte ich, du wolltest es bestimmt zurückhaben. Oder wüsstest vielleicht etwas mit dem Rest anzufangen.«
Em bückte sich, um den Karton aufzuheben, und dachte daran, wie schrecklich es war, dass sowohl Sashas Eltern als auch Chases Mom mit nichts als so einem bisschen Kram zurückgeblieben waren, der für ihre Kinder stand. »Sind Sie sicher, dass Sie nicht ein paar Minuten reinkommen wollen, Mrs Singer?«
»Das bin ich«, antwortete Chases Mom schroff. Aber sie blieb noch. Sie standen einen Augenblick da. Dann: »Ihr beide wart also befreundet? Ich kannte nicht viele von den … Leuten, mit denen er seine Zeit verbrachte.«
Es folgte erneutes Schweigen, während Em abwog, wie sie diese Frage wahrheitsgemäß beantworten sollte. »Wir haben schon immer zur selben Clique gehört«, erwiderte sie und stellte den Karton direkt hinter die Tür. »Na ja, seit der achten Klasse jedenfalls. Meine beste Freundin war lange mit seinem besten Freund – Zach – zusammen. Aber es ist noch gar nicht so lange her, dass er und ich … uns etwas besser kennengelernt haben.«
Chases Mom hörte Em mit großen, traurigen Augen zu. An dieser Stelle erhellte sich ihr Blick ein wenig.
»Es hatte nichts mit Verlieben zu tun oder so«, hörte Em, die ihren Wortschwall nun nicht mehr aufhalten konnte, sich sagen. »Aber ich habe angefangen, ihn besser zu verstehen. Wir haben zusammen Gedichte geschrieben.« Der letzte Teil entsprach zwar nicht ganz der Wahrheit, kam ihr aber durchaus nah genug.
»Ich habe immer gearbeitet«, sagte Mrs Singer jetzt und sah an Em vorbei auf irgendeinen unbestimmten Punkt im Hintergrund. »Ich hatte nie die Gelegenheit, seine Freunde kennenzulernen.«
»Also, er hatte jedenfalls eine ganze Menge«, erwiderte Em bestimmt und schob die Fäuste unter die Ärmelbündchen ihres Sweatshirts. Sie dachte zurück an das T-Shirt, das Crow ihr geborgt hatte, zu den Daumenlöchern, die es in den Ärmeln hatte, genau wie viele ihrer eigenen. »Er war ein großartiger Sportler, die Jungs mochten ihn und die meisten Mädchen auch«, versicherte sie lächelnd, während sie versuchte, Mrs Singers Reaktion einzuschätzen. »Er war sehr beliebt. Wir alle … ich vermisse ihn. Sehr.«
Chases Mom atmete kräftig aus, so als hätte sie vorher die Luft angehalten. »Danke, Emily«, sagte sie. »Danke, dass du das gesagt hast. Ich vermisse ihn auch.« Dann steuerte sie wieder auf den Gehweg zu, drehte sich noch einmal um und sagte: »Viel Glück für
Weitere Kostenlose Bücher