Im Herzen des Kometen
rief Saul, bewegt halb von Mitleid und halb von Verärgerung über seine schmerzlichen Erinnerungen. »Seit zehn Jahren haben Sie und Ihresgleichen gehört, aber nicht zugehört und verstanden. Wann werden Leute wie Sie jemals begreifen, daß wirkliche Juden diesen verwünschten Tempel niemals gewollt haben?«
Ould-Harrad blickte ihn erstaunt an. Der Gasdetektor hing vergessen in seiner Hand. »Ich weiß, daß eine Anzahl Kibbuzim und Zionisten, die von einem Großisrael träumten, dagegen waren, aber…«
»Aber nichts!« rief Saul erbittert. »Die große Mehrheit der Juden, in Israel und anderswo, stimmte dagegen, stritt und kämpfte dagegen. Es wurde uns aufgezwungen, von mörderischen Fanatikern und einer ignoranten Welt, die vor allem ein Mittel darin sah, der Region einen Frieden aufzuzwingen, den sie nie gekannt hatte. Frieden!« Saul spuckte das Wort aus. »Diese Dummköpfe zerstörten nicht nur meine Nation und meine Familie, Kapitän, sie setzten Hohepriester ein, die tatsächlich die Stirn hatten, mir zu sagen, was ich tun müsse, um ein Jude zu sein! Das hatte nicht mal Hitler versucht!«
Ould-Harrad sah ihn mit wachsendem Unwillen an. »Dr. Lintz, ich fürchte, Sie überschätzen mein Interesse an Ihren jüdischen Angelegenheiten, aber wenn ich es richtig sehe, kommt der Führer des Synedriums, des Hohen Rates der Juden, aus Ihrer Priestersippe der Cohen. Und der Erste Tempeldiener ist ein Levite… Ich verstehe nicht, worüber die Juden sich beklagen müssen. Sind mit der Erbauung des Tempels nicht endlich zwei Jahrtausende alte Prophezeiungen erfüllt worden?«
Saul antwortete nicht gleich. Er blickte zur Wand hinüber, wo Malenkow eine Abbildung Alt-Kiews mit den vergoldeten Turmzwiebeln der Sophienkirche und des Höhlenklosters befestigt hatte. Die frischen, im Sonnenuntergang leuchtenden Vergoldungen und die sorgfältig wiederhergestellten Gebäude der Altstadt kündeten von Großrußlands Rückwendung zu seiner Vergangenheit.
Zehn Jahre, dachte er. Und noch immer scheint es unmöglich, Außenstehenden die Vorgänge verständlich zu machen.
Vielleicht schuldete er es dem Mann, einen Versuch zu machen. Aber wie konnte man mit wenigen Worten erklären, daß das Judentum sich in mehr als zweitausendjährigem Exil verändert hatte, seit die Römer den Tempel der Makkabäer niedergebrannt und die Priester erschlagen hatten, worauf das Volk sich in alle Winde zerstreut hatte?
Die Splittergruppen waren in fremde Klimazonen ausgewandert, hatten fremde Ideen und Lebensweisen übernommen. Nachdem ihre west- und mitteleuropäischen Diasporagruppen im Mittelalter nach Ostpolen und Rußland vertrieben worden waren, hatten sie sich dort in den engen kleinen Städten Galiziens und Wolhyniens zu einer städtisch geprägten Händler- und Handwerkerbevölkerung entwickelt. Die Priestersippen der Cohen und Leviten verloren ihren Einfluß, denn wie sollten sie ihre priesterlichen Ämter versehen, wenn es keinen zentralen Tempel mehr gab, wo sie ihre zürnende Gottheit durch Opfer besänftigen konnten?
Die geistige Führung fiel den Rabbi zu, den religiösen Lehrern, die damit eine Rolle übernahmen, die nicht ererbt wurde, sondern durch das Studium der Thora und durch Weisheit erworben wurde.
Eine Rolle, wie sie ähnlich von Jesus geschrieben worden war, nur war auch er von Männern umgeben gewesen, die in seinem Namen prophezeit hatten. Und auch auf ihn waren Priester gefolgt.
Nach einem Jahrhundert der Kriege, Aufbauleistungen, Zwistigkeiten und Unterdrückungsmaßnahmen gegen den moslemischen Bevölkerungsteil war der Staat Israel in Sauls Jugend allmählich durch innere Uneinigkeit zerfallen. Propheten erschienen an jeder Straßenecke, und immer neue strenggläubige Sekten erblickten das Licht der Welt.
Auch der Islam hatte seine Spaltungen durchgemacht, und die Christenheit war geteilt, ihre Bedeutung im Dahinschwinden.
Aus diesem Nährboden war die große Idee gewachsen, eine offensichtliche Lösung. Aber wie so viele offensichtliche Lösungen war sie katastrophal falsch.
Die Diaspora hatte uns alle verändert, dachte Saul. Im Exil waren wir zu Individualisten geworden, hatten uns unseren Wirtsvölkern angeglichen, waren verweltlicht, ein Volk, das mit Blutopfern auf goldenen Altären nichts mehr im Sinn hatte. Zwar betrauerten wir den verlorenen Tempel Salomons, aber war sein Brand nicht vielleicht ein Zeichen gewesen, daß es Zeit sei, Gott in anderer Weise zu erkennen?
Außenstehende wie
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