Im Herzen Rein
Fritz-Schloß-Park fuhr Paula direkt zu Heiliger ins Atelier. Sie hatte sich von Ulla die Adresse besorgen lassen und ihr gesagt, dass sie unangemeldet hinfahren würde. Auf der Fahrt sammelte sie noch einmal die Anhaltspunkte, die Heiliger verdächtig erscheinen ließen. Erstens: Er war am Fundort der Leiche aufgefallen, weil er über die Absperrung gesprungen war. Zweitens: Von seiner Vernissage aus hätte er Chris ins Kino folgen können. Niemand sonst konnte wissen, dass sie dort war. Drittens: Er wusste, dass sie im Guggenheim war und dass sie ein Schließfach benutzen musste. Natürlich rechnete er damit, dass man ihn früher oder später nach einem Alibi fragen würde - jedenfalls als Täter würde er es tun.
Als Unschuldiger würde er überrascht sein, von der Polizei gefragt zu werden, warum er nicht zu seiner Verabredung mit Frau Gregor gekommen war. Ob sie ihm wohl etwas in der einen oder anderen Richtung anmerken würde?
Sein Atelier lag in der Burgstraße in Mitte, und zufällig fand sie gleich in der Nähe einen Parkplatz. Bevor sie ausstieg, klingelte ihr Handy. Sie sah, dass es Chris war. Sie riet ihr von einem Besuch bei Heiliger ab. Sie habe sich alles noch einmal überlegt und sei der Ansicht, dass sie Heiliger nur durch einen DNA-Vergleich überführen könnten.
Paula wandte ein: »Ich möchte mir mal einen Eindruck von ihm machen. Vielleicht fällt mir ja irgendwas in die Hände.«
»Er ist viel zu gewieft, als dass er auf eine Befragung nach seinen Alibis nicht vorbereitet wäre. Er wird nur gewarnt, dass wir auf seiner Spur sind, und dann gibt es keine Chance mehr, wegen des DNA-Materials an ihn ranzukommen.« Sie schien in ziemlicher Aufregung zu sein.
»Chris, ich bitte dich. Wenn der so ausgefuchst ist, wie du ihn darstellst, fällt er auf gar nichts rein.«
Chris’ Stimme war fast schrill. »Paula, es ist Unsinn, geh da bitte jetzt nicht hin.« Und dann kam es wie eine Anweisung: »Lass uns erst besprechen, wie wir vorgehen.«
»Okay, ich melde mich wieder.« Paula stieg aus dem Wagen und knallte die Autotür zu.
Chris mochte recht haben mit ihren Vermutungen über Heiliger, aber Vermutungen nutzten ihr nichts. Sie musste einen Schritt weitergehen, und dazu war sie entschlossen.
Sie sah sich um. Ein Stückchen weiter führte eine Brücke über die Spree zum Alten Museum mit dem Lustgarten. Sie prägte sich routinemäßig die Umgebung ein, bevor sie zu einer möglicherweise gefährlichen Befragung ging. Sie überquerte die Straße und ging durch die Einfahrt in den Hinterhof eines Fabrikgebäudes. Fabriken gab es hier nicht mehr, aber es war der typische Bau aus rotem Klinker, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Berlin entstanden waren. Jetzt befanden sich darin Büros, Ausstellungsräume, Modeetagen, Designerfirmen und Ateliers von Künstlern.
Heiligers Atelier sollte im Parterre liegen, aber sie konnte keinen Blick durch die riesigen Scheiben werfen, weil sie geschwärzt waren. Vielleicht konnte man von innen rausschauen, aber nicht umgekehrt.
Sie stieg die halbe Treppe zum Hochparterre hinauf und stand vor der Eingangstür aus schwerer Eiche. Sie war alt und sicher aus einem anderen Haus, vielleicht einem Brandenburger Schloss. Paula konnte keine Klingel entdecken, nur einen eisernen Klopfer in der Mitte der Tür, der wie ein Totenschädel geformt war. Sie schlug den Schädel gegen das Tor, aber es rührte sich nichts. Sie versuchte es noch einmal, diesmal kräftiger. Nichts. Sie bummerte jetzt laut mit der Faust gegen das Holz. Ein Mann mit einem Besen und einem Eimer auf der anderen Seite des Hofes beobachtete sie grinsend. Er sagte: »Er muss da sein.«
Dann klopfe ich eben noch einmal, dachte sie, drehte sich um und erschrak. Direkt vor ihr stand ein großer massiger Mann in Schwarz. Er trug einen Arbeitsoverall. Er hatte die schwere Eichentür so leise geöffnet, dass sie nichts gehört hatte. Ihr fiel ein, was sie alles über Heiliger wusste: großes Medientheater wegen der Ausstellung eines Totenschädels, den er vollständig mit diamantenähnlichen Kunstkristallen überzogen hatte, und sein Spruch, Kunst sei dazu da, irgendwelche Scheißräume der Gesellschaft aufzuhellen. Statements darüber, dass ein Künstler auch ein Geschäftsmann sein müsse, und Aussagen von angesehenen Kritikern, die ihm eine ernsthafte und kritische Auseinandersetzung mit der heutigen Zeit attestierten. Da stand er nun vor ihr, der auf Erfolg versessene Künstler, angeprangert und
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