Im Informationszeitalter
Hintergrund, sie sind Mittel zu dem Zweck, eine Situation hervorzurufen, in der sich die Frage stellen läßt: “Was wäre (geschehen), wenn…?”.
Lem definiert fiktive Geschichte als “Political Fiction” (PF), als “die Literatur, die darüber berichtet, was für einen alternativen Gang die Geschichte genommen hätte, wenn gewisse entscheidende Ereignisse im Zeitgeschehen nicht so verlaufen wären, wie es der Fall war…” (Lem 1981 b, S. 26) Der Begriff der “Fiktiven Geschichte” umfaßt dagegen einen viel weiteren Bereich, zumal auch die literarische Auseinandersetzung mit ihr ebenso wie die SF einen Spiel- und Unterhaltungscharakter hat.
In seiner strukturgeschichtlichen Studie zur Semantik historischer Zeiten führt der Historiker Kossellek aus:
“… deshalb (wegen der immer größeren Herausforderung der Zukunft, AA.) wird speziell nach der jeweiligen Gegenwart und ihrer damaligen, inzwischen vergangenen Zukunft gefragt. Wenn dabei im subjektiven Erfahrungshaushalt der betroffenen Zeitgenossen das Gewicht der Zukunft anwächst, so liegt das sicher auch an der technisch-überformten Welt, die den Menschen immer kürzere Zeitspannen aufnötigt, um Erfahrungen zu sammeln …”. (Kossellek 1979, S. 12)
Mutmaßungen über ungeschehene Geschichte sind in den kistorischen Wissenschaften schlecht angesehen; hypothetische Alternativen zum “wirklichen” Geschehen gelten als unseriös. Überdies hat sich eine Erforschung des Ungeschehenen einer unübersichtlichen Anzahl von Alternativen zu stellen, deren Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit nicht leicht zu beurteilen ist. Eine belletristische Bearbeitung dagegen hat die Chance, sich über die Wahrscheinlichkeit im Scherz zu erheben, indem sie Zufälle einfügt, einen betont deterministischen Verlauf der Geschichte verfolgt, oder beides kombiniert.
Die historische Wissenschaft versucht, mit Hilfe von Quellenforschung und Quellenkritik, tatsächliche Vorgänge zu rekonstruieren. Diese Begebenheiten sind nicht unmittelbar zugänglich, aber ihre gegenwärtigen Präsenzen referieren auf eine vergangene Wirklichkeit. Seit dem 19. Jahrhundert versuchen die historischen Wissenschaftler mit den Naturwissenschaftlern gleichzuziehen. Dieser Wille zur Ordnung in der
Geschichte wird für Amery zur Zielscheibe satirischer Darstellungen.
Der Historiker Demandt weist ironisierend auf den offiziellen, kulturstabilisierenden Charakterzug der Geschichtsschreibung hin:
“Die Geschichte überhaupt und daß wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht, verdanken wir doch der Tatsache, daß immer die richtige Seite gesiegt hat, die richtigen Entscheidungen getroffen wurden, die richtigen Leute gelebt haben. Dies alles umdenken wollen, ist das nicht eine frivole Undankbarkeit gegen die Norm?”. (Demandt 1984, S. 14)
Amery ist ein Schriftsteller, der es sich zum Ziel gemacht hat, diese Norm umzudenken, indem er mit den Kunstgriffen, die ihm die SF zur Verfügung stellt, Alternativen in der Geschichte als Modelle konstruieren und zu Ende denken kann.
Der Vorwurf der Unendlichkeit der Alternativen ist berechtigt; ändert man (sei es auch nur spekulativ) den Strom der Geschichte, so ändert der Interpret nicht zuletzt auch den Zeitstrahl, auf dem er sich selbst bewegt. Diesen Aspekt umgeht Amery mit seiner belletristischen Bearbeitung der Geschichte: nicht die Darstellung der Tatsächlichkeit ist wichtig, sondern, frei nach Dürrenmatt 15 , das folgerichtige Beenden einer begonnenen Geschichte, die Erweiterung der Perspektive.
Nach Demandt kann die ungeschehene Geschichte Bedeutung in vier Dimensionen erlangen:
1. für das Verständnis von Entscheidungssituationen,
2. für die Gewichtung von Kausalfaktoren,
3. für die Begründung von Werturteilen und
4. für die unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten eines Geschehens.
Zu 1.: Wird eine historische Figur für eine Handlung verantwortlich gemacht, ist davon auszugehen, daß sie Alternativen zu diesem Handeln hatte. In der Geschichtsschreibung sind diese Entscheidungssituationen die Gelenkstellen der Geschichte. Bei ihrer Interpretation aber muß von einer Doppelperspektive ausgegangen werden: zum einen vom Rückblick des Interpreten, zum anderen aber auch von der Perspektive der historischen Figur, die von sich aus gesehen in die Zukunft blickt und versucht eine Prognose zu stellen. “Der Gehalt an Zukunft in einer Situation wird zunächst durch die Wünsche und Absichten der
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