Im Informationszeitalter
Wirklichkeit außerhalb der eigenen, erfahrbaren Sphäre. In dieses Vakuum setzt Lem eine eigene Ordnung und einen eigenen Moralkodex ein.
“Also: die Gesetze der Märchenwelt sind ethisch bedingt. Ihre Physik, könnte man sagen, steht auf der Seite der guten Helden.” (Lem in: Barmeyer 1972, S. 165). Der Glaube, daß die Welt ein auf den “Menschen ausgerichteter Homöostat” ist, wird systematisch demontiert.
Besonders auffällig ist die immer wiederkehrende Konfrontation des “weisen” Konstrukteurs mit mehr oder minder verschrobenen “Königsrobotern”: mit König Grausam, der ein leidenschaftlicher Jäger ist (6. Fabel), mit König Balerion, der sein Staatssystem auf einem Ludus-Prinzip aufgebaut hat, um seiner eigenen Spielleidenschaft zu frönen (9. Fabel), mit König Voluptikus, der mittels einer Maschine “Träume spielt” und sich in einem onirischen Laybyrinth verliert (Unterfabel der 13. Fabel), oder mit Exilius Tratareus, dem Tyrannen ohne Reich (12. Fabel). Gemeinsam ist diesen Herrschern, daß sie ein Faible für das Spiel in dieser oder jener Art verbindet 20 . Dieses Spiel ist zugleich immer ein Spiel mit Macht; der Umgang mit Macht wird in die Diskussion kultureller und sozialer Werte so integriert. In der zwölften Fabel befreien sich die von Lem geschaffenen Wesen selbst und besiegen den Tyrannen Exilius Tratareus. Es hat den Anschein, als wolle Lem aufklärerische Ideale auf ihre Aktualität prüfen; so stammt schließlich auch die Vorstellung von vollkommenen Automaten aus dieser Zeit. Die Automatenkonstrukteure der Aufklärung standen im Dienste des Königs und des Adels - man denke an den
Flötenspieler von Vaucanson (1738) - und so ist auch die Gegenwart Truls feudalistisch strukturiert 21 . Die Gebundenheit an totalitäre Systeme zeigt zudem den utopischen Mißerfolg der Maßnahmen der Konstrukteure, die sich von dem Gedanken einer bestimmenden Autorität nicht lösen können.
Als konstitutiv für phantastische Literatur definiert Lem, daß sie mit verschiedenen Methoden paradigmatische Strukturen aus anderen Gattungen (zum Beispiel dem Kriminalroman) entleihen kann. Der Autor hat dann die Möglichkeit, die Entlehnungen vor dem Leser mehr oder weniger zu verbergen, oder sie als entliehen zu kennzeichnen (vgl.: Lem in: Barmeyer 1972, S. 167/168). Lem kennzeichnet seine Entlehnungen deutlich und konstruiert aus ihnen die Parodie.
Die parodistische Wirkung liegt darin, daß trotz der hohen technischen Entwicklungsstufe der Kultur, die sich durch die Aneinanderreihung verschiedenster SF-Motive 22 belegen läßt, die Situationen auf geläufige, fast schon banale Probleme referieren: auf die Eifersucht der Konstrukteure, die Tyrannei herrschsüchtiger Diktatoren, die Unerreichbarkeit einer perfektionierten Gesellschaft, aber auch schlicht Probleme im Umgang mit der Technik. Die Fabeln enden niemals mit einer Sensation, sondern entweder ergebnislos (z. B. die letzte Fabel), oder mit einem Mißerfolg, der dann vertuscht wird (z. B. die erste Fabel).
Nach Dominique Sila spielt Lem mit der Literatur, “indem er an das Polen des 17. Jahrhunderts anschließt” (Sila in: Berthel 1981, S. 64) 23 , also schon eine historische Anknüpfung vollzieht, die der (kundige) Leser erkennen kann; diese Landschaft aber bindet er an einen mythischer Raum, an eine Vorgeschichte, die nicht genannt, sondern nur vage angedeutet wird und in der der Mensch allgemein seinen Platz hatte. Zum einen wird das Modell dadurch allgemeiner und damit interkulturell übertragbar, zum anderen wird erst durch die Abkoppelung von einer direkten historischen Vorlage auch Platz für Hexen, Ritter und Wunder geschaffen. Aus diesem Grund konnte Lem mit seinen Werken auch international erfolgreich sein, was Amery verwehrt blieb.
Als Elemente der SF gliedern sich neue, die Erfahrung des “Lesermenschen” transzendierende
Gedankenkonstrukte 24 in die Märchenwelt ein. Grenzlinien der menschlichen Moral können im Modell des abstrakten Raums abgegangen werden, so kann beispielsweise die Verantwortung gegenüber einer veränderten Schöpfung diskutiert werden, wie sie sich aus der Gentechnik entwickelt werden. Nirgendwo wird deutlicher, daß die faktischen Möglichkeiten exponential stärker wachsen als ihre ethischen Grenzwerte.
Die parodistischen Elemente beziehen sich auf die Versuche einer technologisierten Gesellschaft, sich auf dem Weg des Experiments philosophisch-abstrakten Werten wie “Glück” zu
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