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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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einem Baum ab und erbrach sich.

Auf dem Rückweg zum Tor musste Tubber unentwegt gegen die immer wieder in ihm aufbrodelnde Übelkeit ankämpfen. Er passierte die Leichname der Wachposten, ohne sie auch nur zur Kenntnis zu nehmen, und lief hinter das Haus, wobei ihm auf den letzten Metern war, als würden seine Knie kraftlos unter ihm nachgeben.
Greta sah ihn kommen, und sein unsicherer Gang fiel ihr sofort auf. Schnell öffnete sie die Beifahrertür, sodass er sich erschöpft auf den Sitz fallen lassen konnte.
»Mein Gott, John!«, entfuhr es ihr entsetzt, als sie im fahlen Licht der Innenbeleuchtung sein blasses Gesicht sah. »Was ist mit Ihnen? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Erzähle ich Ihnen während der Fahrt«, keuchte Tubber tonlos. »Weg hier, bloß weg!«
Unverzüglich ließ Greta den Motor an, schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr los. Während sie den Wagen über die zerfurchte Waldstraße lenkte, blickte sie zwischendurch immer wieder besorgt zum schweigsamen Tubber, der die Augen geschlossen hielt und in dessen Gesicht nur zögernd Farbe zurückkehrte.

Nach einer Weile schlug Tubber die Augen auf und berichtete, was er erlebt hatte.
Als müsste er sich von einem Albdruck befreien, schilderte er haarklein seine Beobachtungen. Er erzählte von dem geheimen Ausbildungslager, das nur eines von vielen war, von dem zweifellos unmittelbar bevorstehenden Unternehmen der Nazis und von der Kaltblütigkeit, mit der sie ihre überschüssigen Rekruten als unerwünschte Mitwisser ausgelöscht hatten. Die ausführliche Beschreibung des Geschehens half Tubber, sich wieder zu klarem Denken zu zwingen. Insgeheim schämte er sich für den irrationalen Schockzustand, in dem er sich befunden hatte und aus dem er sich nun langsam wieder befreite. Immerhin hatte er ja schon viele Menschen sterben sehen, viele von ihnen auf weitaus brutalere und ekelerregendere Weise. Andererseits hatten sich seine Nerven noch bei keinem Einsatz zuvor in einem so erbärmlichen Zustand befunden. Jetzt jedoch hatte er seine Sinne wieder geordnet, auch wenn ihn der Schrecken längst noch nicht losließ, und kalkulierte seine nächsten Schritte. Er gelangte zu der unangenehmen Einsicht, dass ihm eigentlich nur eine einzige Möglichkeit blieb: Er musste sich in Berlin direkt an Pattons Stellvertreter wenden. Der vorschriftsmäßige Umweg über eine Meldung nach London würde zu viel wertvolle Zeit verschlingen, sofern man ihn dort überhaupt anhören würde. Tubber konnte den Amerikanern immerhin genau sagen, wann sie in Pirna zuschlagen mussten, um die versammelten Konvois abzufangen. Dass er die Lage des geheimnisvollen Hauptquartiers mit dem schon klischeehaft nazihaften Namen Odinsburg nicht in Erfahrung hatte bringen können, war natürlich ärgerlich. Doch er schätzte sich schon glücklich, dass ihm das Schicksal überhaupt verwertbare Informationen beschert hatte. Alles Weitere würde sich ergeben.
»Und die beiden Offiziere haben wirklich vom Reichsführer gesprochen?«, fragte Greta nach.
Tubber nickte bestätigend. Auch ohne dass sie es aussprach, wusste er genau, was Greta in diesem Moment durch den Kopf ging. Es war dieselbe Frage, die auch er sich stellte: War mit dem Reichsführer Heinrich Himmler gemeint? Niemand sonst hatte im Dritten Reich diesen höchsten Rang der SS getragen. Aber Himmler war seit den ersten Maitagen des Jahres 1945 verschollen. Niemand hatte ihn mehr gesehen, nachdem er zum letzten Mal Hitlers Bunker verlassen und das zerbombte Berlin mit unbekanntem Ziel verlassen hatte. Er war von der Bildfläche verschwunden, so wie Göring. Vermutlich waren beide längst tot, gestorben im Chaos des Untergangs. Aber eben nur vermutlich. Sollte Himmler, dieser fanatische Verfechter absurder Prinzipien der Rassereinheit und gläubige Anhänger bluttriefender nordischer Mystik, jedoch tatsächlich noch leben und der führende Kopf dieser wiedererstandenen SS sein, musste man mit dem Schlimmsten rechnen.
»Sie müssen sie aufhalten«, beschwor Greta ihn ruhig, aber eindringlich. »Sie wissen so gut wie ich, was diese ... diese Leute anrichten können. Ich noch mehr als Sie.«
Tubber schaute Greta von der Seite an. Sie wirkte gefasst, aber er spürte die blanke Angst unter der dünnen, zerbrechlichen Oberfläche der Selbstbeherrschung.
»Ich werde sie aufhalten«, versprach er. »Ich alarmiere in Berlin die Amerikaner, die werden das ganze Nest ausräuchern. Fahren Sie erst mal zu sich nach Hause, Sie haben sich Ruhe

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