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Im Jahre Ragnarök

Titel: Im Jahre Ragnarök Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Henkel
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Holzpritschen, die an den nackten Steinwänden standen, und vergrub das Gesicht in den Händen, um nachzudenken. Er tat sich schwer, einen Fluchtplan zu entwickeln. Einerseits, weil er trotz seiner Beobachtungen so gut wie nichts über den Ort wusste, an dem er gefangen gehalten wurde. Und zum anderen, weil er nicht sicher war, ob er Dünnbrot trauen konnte.
Der Deutsche hatte ihn getäuscht. Vielleicht würde der ihn auch verraten und bei einem Fluchtversuch ans Messer liefern. Diese Möglichkeit konnte Tubber nicht so einfach ausschließen. Er hatte über die Jahre zu viele Beispiele von spontanen und für gewöhnlich höchst gefährlichen Gesinnungswechseln erlebt, um noch auf die Verlässlichkeit der Menschen zu zählen.
Ich hätte gewarnt sein sollen , dachte Tubber und verwarf einen ersten, absolut unbrauchbaren Plan bereits im Ansatz. Dass ich diesem Dünnbrot misstrauen muss, war mir doch schon in Hamburg klar, als er ... Tubber stutzte. Was war in Hamburg überhaupt geschehen? Etwas war dort vorgefallen – aber was? Seine Erinnerung war schattenhaft; schlimmer noch, es war, als würde sie sich in nichts auflösen, wenn er versuchte, sie zu fassen. Nur mit großer Mühe konnte er sich einige Fragmente ins Gedächtnis rufen und zusammenfügen.
Es war auf einem Friedhof , entsann Tubber sich. Ja, genau ... warum waren wir eigentlich dort? Ein Grab ... ich wollte zu einem Grab. Wieso bloß? Ich kenne doch niemanden—für Ingrid! Ingrid hatte mich gebeten, das Grab von ... Müller?
Metzger? Meyer! Auf dem jüdischen Friedhof ... war ich denn am Grab? Wie sah es aus? Nein — da war kein Grab. Es war ... weg. Ja, richtig. Die Nazis müssen es eingeebnet haben ... und Dünnbrot leugnete es. War es so? Oh Gott, ich weiß es nicht mehr! Wird mein Gedächtnis langsam ausgelöscht? Habe ich darum ständig diese Schmerzen? Er sprang auf, trat ans Fenster und packte mit beiden Händen das rostüberzogene Eisengitter. Doch er rüttelte nicht daran. Er hatte einfach nur das Bedürfnis, sich an irgendetwas festzuhalten. In Grübelei versunken, starrte er hinaus auf die Berge jenseits der Elbe, die umwölkt von Nebelschleiern mit dem regengrauen Himmel verschmolzen.
Wie lange er schweigend so verharrte, wusste Tubber nicht. Nach einer Weile, die ebenso gut eine halbe Stunde wie auch nur einige Sekunden gedauert haben mochte, riss ihn Dünnbrots Stimme schlagartig aus seinen Gedanken:
»Wie war das noch mal? Machen Sie einfach, was ich mache, und Ihnen kann nichts passieren! Dass ich nicht lache!«
Tubber ließ die Gitterstäbe los und drehte sich zu dem wütenden Kommissar um.
»Ich gebe zu, ich habe mich geirrt«, erwiderte er. »Aber Sie haben mich belogen.
Auch nicht viel besser.«
»Wovon reden Sie überhaupt?«
»Sie haben mir weismachen wollen, Sie wären bei den Pionieren gewesen. Und woher kommt dann diese SS-Blutgruppentätowierung an Ihrem Arm?«
»Verdammt, ich war bei den Pionieren!«, beharrte Dünnbrot ungehalten. »SS-Panzerpionierbataillon 10, wenn Sie's genau wissen wollen. Ja, ich war bei der SS.
Zufrieden?«
»Und warum haben Sie davon nichts gesagt?«
Dünnbrot stieß ein abschätziges Schnauben aus. »Angehöriger der SS gewesen zu sein ist nicht gerade etwas, das man an die große Glocke hängt. Aber das verstehen Sie ja sowieso nicht. Können wir jetzt diese nutzlose Diskussion beenden?
Lassen Sie uns lieber überlegen, wie wir hier rauskommen. Reingebracht haben Sie uns ja glänzend, Herr Meisterspion.«
»Fühlen Sie sich etwa nicht wohl bei Ihren alten Freunden?«, versetzte Tubber bissig.
»Reden Sie keinen Unsinn. Das sind noch weit weniger meine Freunde als Sie es sind. Ich will hier weg, zum Teufel. Da draußen wartet Chantal auf mich, falls Sie das vergessen haben!«
»Ich habe es nicht vergessen«, entgegnete Tubber. »Und ich frage mich, was Fräulein Schmitt wohl sagen würde, wenn sie von dieser Tätowierung wüsste.«
Der Deutsche runzelte ungläubig und genervt die Augenbrauen. »Himmel, Chantal hat die Tätowierung längst gesehen! Ich weiß ja nicht, wie Sie's in England tun – aber hierzulande ist man dabei nackt und hat nicht viele Möglichkeiten, etwas zu verstecken.«
Dünnbrots geschmacklose Äußerung ließ Tubber verstummen. Er hatte eine Abneigung dagegen, derart ruppig mit dem Intimleben anderer Menschen konfrontiert zu werden und wusste in solchen Situationen nie, wie er reagieren sollte.
Als er seine Ratlosigkeit nach einigen Sekunden, die er als endlos empfand,
endlich

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