Im Jenseits ist die Hölle los
mittleren Alters, ein Beamtentyp, stand auf der Esplanade im Schatten des Restaurants Kappeli und blickte gedankenverloren in den Himmel, vorbei an der Skulptur der Havis Amanda. Am blauen Augusthimmel kreiste eine Schar Möwen, eine zarte Schönwetterwolke segelte über den Markt hinweg, und der Mann dachte: »Ich habe verdammte Lust auf einen Fick.« Die junge Frau von vorhin ging an ihm vorbei, streifte ihn mit einem Blick und dachte: »Mit dem würde ich’s nicht mal machen, wenn ich eine Hure wäre.«
Generell waren die Gedanken der Menschen auf dem Markt, zumindest an diesem Tag, unzusammenhängend und belanglos, hatten weder Hand noch Fuß. Tief schür fende Überlegungen fehlten völlig, die großen Denker tätigten an diesem Tag offensichtlich keine Marktein käufe. Auf der Snellmaninkatu begegnete ich einem elend aussehenden Mann, der mit gerunzelter Stirn, den Blick auf den Boden geheftet, dahintrabte. Er war um die vierzig, mager, in einen Popelinemantel gehüllt, mit sich schleppte er eine ramponierte Aktentasche. Gleich auf den ersten Blick war zu erkennen, dass es dem Mann nicht gut ging. Er blickte verzweifelt, fast verängs tigt. Ich beschloss herauszufinden, was der arme Kerl gerade dachte.
Seine Gedanken waren bleischwer, düster, äußerst trostlos, sie kreisten um seine gegenwärtige Situation und seine desolaten Finanzen. Sein Leben war in eine Sackgasse geraten. Er war Akademiker und arbeitslos, bereits seit gut einem Jahr. Natürlich hatte er Miet schulden. Seine einzigen besseren Kleidungsstücke waren die, die er trug, und auch die hatten schon besse re Tage gesehen. Außerdem litt er unter furchtbaren Bauchschmerzen, was auch immer der Grund dafür sein mochte, vielleicht war es Krebs, dachte er. Dieser Gedanke erschien ihm in dieser Situation auf unbegreif liche Weise beinahe tröstlich: Dann hätte er immerhin etwas, was nicht alle hatten. Der Mann spulte sein bisheriges Leben wie einen Film ab, eine Serie von Miss erfolgen: im Studium, bei der Arbeitsplatzwahl, mit Frauen, mit allem. Er erinnerte sich daran, dass der Arzt in der Armee bei ihm einen Wirbelsäulenschaden diagnostiziert hatte. Bei einer Parade war er ohnmächtig geworden, und man hatte ihn auf einer Trage in die Offiziersschule zurückgebracht. Bei ungewöhnlichen Anstrengungen machte ihm sein Herz zu schaffen. Er litt unter starker Transpiration, seine einzige natürliche Veranlagung, in der er die anderen übertraf, dachte er gequält. Er war ein bemitleidenswerter Mensch, glück los, verzagt, unsicher, mutlos. Er sagte sich, dass es ihm nie gelingen würde, sein Leben besser als bisher zu meistern.
Als dieser bedauernswerte Mensch in die Liisankatu einbog, stolperte er über die Stufen vor dem Papierge schäft und fiel der Länge nach auf die Straße. Seine Knöchel waren aufgeschürft – natürlich. Sie würden jetzt bis Weihnachten verschorft sein, dachte er, wäh rend er seine bleichen Hände betrachtete, von denen wässeriges Blut tropfte, nicht viel, aber doch genug, dass er sich die Kleidung damit beschmierte.
Plötzlich kam Leben in den Mann. Er ging forschen Schrittes die Straße hinunter und dachte: »Ich hänge mich auf. Dieses Leben hat keinen Sinn mehr.«
Zielstrebig eilte er zu seiner Wohnung im Eckviertel zwischen Liisankatu und Mariankatu. Sowie er eingetre ten war, zog er seinen Popelinemantel aus und ging ins Bad, um sich die Hände zu waschen. Dann holte er aus der Küche eine aufgerollte Plastikwäscheleine und einen hohen Hocker. Er stellte den Hocker unter die Wohn zimmerlampe, stieg hinauf und band das eine Ende der Leine um den Lampenschirm. Ich bezweifelte, dass der Knoten halten würde, was den Mann jedoch nicht kümmerte, der am anderen Ende der Leine eine Schlin ge knüpfte. Energisch legte er sich die Schlinge um den Hals und ließ sich fallen.
Der Mann fiel auf den Boden, es sah wirklich böse aus. Die Leine würgte ihn am Hals, aber sein Genick brach nicht, denn die Lampe löste sich von der Decke und schlug ihm auf den Rücken, dass es nur so krach te. Eine Weile lag er auf dem Fußboden, kraftlos und wütend. Dann nahm er die Schlinge vom Hals, stand langsam auf und wankte ins Badezimmer, wo er kaltes Wasser auf seinen Hals mit den roten Striemen laufen ließ. Müde kehrte er ins Zimmer zurück, ließ sich aufs Sofa fallen und dachte: »Dabei wird es nicht bleiben. Ich ruhe mich nur ein wenig aus.«
Nach einigen Minuten erhob er sich steif und machte
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