Im Königreich der Frommen (German Edition)
„religiöser
Apartheid“.
Führende
wahabische Geistliche schüren immer wieder den Unfrieden. Im
Mai 2008 veröffentlichten zweiundzwanzig sunnitische Geistliche
eine Erklärung, in der es hieß, „die Schia-Sekte
[ist] ein schlimmes Übel unter den Sekten der islamischen
Nation und der größte Feind und Betrüger der
Sunnis.“ Drei der Geistlichen waren Mitglieder des Rates der
Obersten Geistlichen, des höchsten religiösen Gremiums des
Landes, viele andere hatten andere Regierungsfunktionen.
Nach dem Lehrplan
saudischer Schulen wird noch heute unterrichtet, dass Schiiten keine
Muslime seien, auch in Schulen, in die ausschließlich
schiitische Kinder gehen.
In Saudi Arabien
gibt es keine Schiiten in hochrangigen Positionen der Armee, der
Polizei, der Verwaltung oder anderer staatlicher Institutionen. Im
gesamten Land gibt es drei Gerichte, an denen schiitische Richter
beschäftigt sind. Sie werden jedoch von Gerichten mit
sunnitischen Richtern streng überwacht und können
ausschließlich über Familiensachen entscheiden.
Dazu kommt noch,
dass unter den saudischen Sunnis Gerüchte über die
Schiiten im Umlauf sind, die so absurd erscheinen, dass sie ein
Kleinkind durchschauen müsste. Leider ist das nicht der Fall.
Ich habe sie von vielen gehört, nicht nur meinen Studenten. Wie
selbstverständlich plapperten sie die Räuberpistolen vom
vergifteten Wasser oder Essen nach, das Schiiten Sunniten gäben,
und von den Sex-Orgien, an denen auch kleine Kinder teilnähmen.
An der König
Saud Universität in Riad sagten meine Studenten, also, nein,
Schiiten könnten hier nicht studieren. An der Al Imam
Universität war es genauso. Erst nach ein paar Monaten, als ich
meine Studenten besser kannte, sagten sie mir, nein, offiziell gebe
es an der Al Imam Universität keine Schiiten, aber nicht jeder
gebe sich eben als solcher zu erkennen. Am Institut für
öffentliche Verwaltung (IPA) in Riad hatte ich einige
Studenten, die offen sagten, sie kamen aus Qatif und Al Ahsa. Das
IPA ist aber keine Universität, sondern eine Art
Fachhochschule.
König
Abdullah, der Saudi Arabien seit 1995 de facto regiert, hat 2003
einen religiösen Dialog mit schiitischen saudischen Geistlichen
eingeleitet. Aschura, das wichtigste religiöse Fest der
Schiiten, am zehnten Tag des dem Ramadan folgenden Monat, durfte
2005 zum ersten Mal wieder öffentlich begangen werden. Viel
mehr konkrete Reformen vorzuweisen gibt es allerdings nicht.
Deshalb kam und
kommt es immer wieder zu Unruhen in der Ost-Provinz. Oft sind
Impulse von außen der Anlass. Während der iranischen
Revolution 1979 zum Beispiel gab es mehrere Tage schwere Unruhen in
Qatif. Um den Festnahmen danach zu entfliehen, mussten viele
schiitische Intellektuelle wie Jafar Al Schajeb lange Jahre im Exil
verbringen. Heute ist er eine moderate Stimme unter den Schiiten des
Königreiches.
Al Schajeb ist
Mitglied des Qatifer Stadtrates und hat eine entscheidende Rolle
dabei gespielt, die Demonstrationen in Qatif im April und Mai für
ein paar Wochen zu stoppen. Er wollte Gesprächen mit dem
Gouverneur der Ost-Provinz eine Chance geben.
„ Seit
2005, seit König Abdullah an der Macht ist, ist unsere
Situation besser geworden. Trotzdem tragen
die Jungen natürlich eine Menge Ärger mit sich herum“
sagte er mir. „Das verstehe ich, aber Ärger allein bringt
uns nicht weiter. Was wir brauchen, sind konkrete Fortschritte.“
Nach der
Demonstration am Abend, als wir gerade wieder in sicherer Entfernung
zur Polizei waren, sagte Sayed Ali voller Stolz und in Anspielung
auf moderate Stimmen der älteren Generation wie Al Schajeb:
„Die junge Generation lässt sich nicht mehr so leicht mit
ein paar Versprechungen abspeisen.“
Als im Winter 2011
die Demonstrationen in Tunesien und Ägypten begannen, war klar,
dass das Protestfieber früher oder später auch auf Saudi
Arabiens Ost-Provinz übergreifen würde.
Ursprünglich
entzündete sich der Ärger der Demonstranten diesmal daran,
dass neun Schiiten seit 1999 ohne ordentliches Verfahren eingesperrt
sind. Angehörige der neun richteten eine Webseite ein, über
die bald die Demonstrationen koordiniert wurden.
Die saudischen
Behörden werfen den neun die Beteiligung an dem Bombenanschlag
auf eine US-Kaserne in Al Khobar vor, bei der neunzehn Amerikaner
umkamen. Angeklagt wurden die neun Schiiten jedoch nie.
Ende Februar zog
zum ersten Mal ein Trupp Demonstranten von vielleicht einhundert
jungen Männern durch Qatifs Innenstadt. Wie
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