Im Koma
besser. Sie wusste, wann man sie berührte. Sie spürte Schmerz und Unbehagen, den Unterschied zwischen heiß und kalt. Sie merkte, wenn ihr Kopf wehtat und ihre Muskeln massiert werden mussten.
Es kam alles langsam zurück.
Sie brauchte bloß mehr Zeit.
Wie lange konnte es dauern, bis sie wieder sehen, Arme und Beine benutzen, bis sie sprechen und allen erzählen konnte, dass ihr geliebter Gatte einen Mann angeheuert hatte, sie zu ermorden, und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er es wieder versuchen würde?
Und dieses Mal würde er, wie Casey mit niederschmetternder Gewissheit erkannte, erfolgreich sein.
Wenn sie nicht einen Weg fand, sich irgendjemandem mitzuteilen. Bitte. Es muss eine Möglichkeit geben. »Da ist er.«
»Endlich«, sagte Warren, als die Fahrstuhltüren aufgingen und mehrere Menschen ausstiegen.
Ein Mann und eine Frau, schätzte Casey, der erdrückenden Geruchsmischung aus Parfüm und Aftershave nach zu urteilen. Hatte einer der beiden sie bemerkt oder hatten sie instinktiv den Blick abgewendet wie die meisten Menschen, wenn sie mit ihrer eigenen Sterblichkeit konfrontiert wurden? Flüsterten sie auf ihrem eiligen Weg den Flur hinunter vielleicht in diesem Moment ein leises Gebet? »Lieber Gott, lass mich gesund bleiben, und bewahre mich davor, dass mir so etwas je passiert.« Hatten sie eine Ahnung, wie glücklich sie waren?
Denn am Ende lief alles auf Glück hinaus, entschied Casey, als sich die Fahrstuhltüren hinter ihr schlossen. Manche Menschen hatten Glück, andere nicht. So einfach war das. Manche Menschen genossen ein Leben voller Glück, anderen waren nur einige wenige flüchtige Augenblicke davon vergönnt. Und wieder andere - wie hieß es noch: Erst hatte man kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu?
Sie wusste, dass die meisten Leute sie für eine der wenigen uneingeschränkten Günstlinge des Glücks hielten. Geboren in ein Leben mit zahlreichen Privilegien, gesegnet mit Schönheit und Verstand und erfolgreich in allem, was sie anpackte. Wie Janine mehr als einmal bemerkt hatte, wurde bei ihr wie bei dem legendären König Midas alles, was sie berührte, zu Gold.
Bis zu einem ungewöhnlich warmen Märztag, als sich das Glück plötzlich von ihr abgewandt hatte, das Gold sich in Sägespäne verwandelt und der Himmel sich von strahlendem Blau zu hoffnungslosem Schwarz verfinstert hatte.
Der Fahrstuhl kam in jedem Stockwerk ruckelnd zum Stehen, um Leute ein- und aussteigen zu lassen. »Verzeihung«, sagte ein Mann, als er das Gleichgewicht verlor und gegen ihre Liege taumelte. Er bat um Verzeihung, hustete und räusperte sich vernehmlich, und Casey malte sich aus, wie er sich hastig wieder aufrichtete und konzentriert auf die Zahlen über der Tür starrte. Ei ertrug es nicht, sie anzusehen, dachte Casey, als ihr Drews entsprechende Bemerkung wieder einfiel. Wo war ihre Schwester überhaupt? Wieder auf irgendeiner gedankenlosen Reise oder total bekifft im Bett eines Fremden? Konnte sie denn überhaupt für sich selbst und ihre Tochter sorgen?
»Okay, bitte machen Sie Platz«, sagte der Pfleger, der die Liege aus dem Fahrstuhl einen langen Flur hinunter zum Ausgang schob. »Fahren Sie mit Ihrer Frau im Krankenwagen, Mr. Marshall?«
»Auf jeden Fall«, erwiderte Warren, als sich über Caseys Kopf eine schwere Decke aus Hitze und Feuchtigkeit senkte wie ein Leichentuch.
»Puh«, sagte der Pfleger. »Ganz schön heiß heute.«
»Über dreißig Grad«, bemerkte jemand anders.
»Ab hier kommen wir zurecht«, verkündete eine dritte Stimme.
Wer waren all diese Leute, fragte Casey sich, als ihre Liege in den Krankenwagen geschoben wurde. Warren war an ihrer Seite und legte eine Hand auf ihre.
»Viel Glück mit allem, Mr. Marshall«, sagte der Pfleger und schlug die Hecktür zu.
»Vielen Dank«, sagte Warren und nahm neben Casey Platz.
Wenig später war der Krankenwagen auf dem Weg.
»Es geht in die Vororte, richtig?«, fragte der Fahrer.
Der Mann, der über die Temperatur gesprochen hatte, erkannte Casey.
»Old Gulph Road 1923«, präzisierte Warren. »Das ist in Rosemont, gleich nach Haverford, etwa eine halbe Stunde Fahrt. Wahrscheinlich nehmen Sie am besten die 9th Street, biegen dann links in die Vine Street und folgen ihr bis zum Schuylkill Expressway.«
»Wollen wir hoffen, dass es nicht wieder mal der Schuylkill Parkplatz ist«, bemerkte die zweite Stimme, die vorhin dem Pfleger erklärt hatte, dass man ab jetzt alleine zurechtkäme.
Vorne im Wagen
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