Im Kreis der Sünder - Kriminalroman aus dem Ruhrgebiet
zugesagt. Dabei war das seiner Meinung nach viel zu früh. Nun, so eklatante Probleme, wie sie Sina Gabrillani plagten, würden sich daraus vermutlich nicht ergeben. Zumindest versuchte er sich damit zu beruhigen. Diese Patientin emp fand er inzwischen als echte Herausforderung. Was hatte ihr Vater ihr angetan? Jedenfalls war Mark Milton sicher, dass der Vater der Schlüssel zu all ihren Problemen war. Unwillkürlich musste er wieder an seine eigenen Kinder Jens und Lena denken. Wie würden sie die Begegnung mit Vanessa Martini verkraften? Hatte sich seine Exfrau Susanne auch diese Frage gestellt, als sie ihren Sprösslingen zum ersten Mal ihren neuen Lover präsentiert hatte? Inzwischen war Susanne mit ihm verheiratet, ohne dass die Kids größeren Schaden genommen hatten. Die Trennung ihrer Eltern und den damit verbundenen Umzug in eine fremde Stadt hatten sie sicher viel schwerer verkraften können als den neuen Partner der Mutter.
Die Türglocke riss Mark Milton aus diesen Gedanken. Wenn ich heute mit Sina Gabrillani nicht weiterkomme, verweise ich sie endgültig an einen anderen Kollegen, überlegte er, während er auf den Türöffner drückte. Wenig später betrat seine Patientin den Vorraum.
»Bin etwas zu früh«, hauchte sie. »Ich hoffe, ich störe Sie nicht.«
»Nein, im Gegenteil«, erwiderte er wahrheitsgemäß. »Kommen Sie ruhig schon herein. Falls Sie mögen, können wir jetzt gleich mit der Sitzung beginnen.« Weil sie nickte, führte er sie sofort in den Behandlungsraum. Wie gewohnt setzte sie sich in einen Sessel, der fast in einem 90-Grad-Winkel zu seinem eigenen stand. Milton hatte sie extra so aufgestellt. Viele seiner Patienten drangen tiefer in ihr Innerstes ein, wenn sie sich nicht direkt beobachtet fühlten.
Nachdem Sina Gabrillani Platz genommen hatte, taxierte Milton sie möglichst unauffällig. Ihr schönes blondes Haar wirkte ungewaschen und strähnig, um die Augen lagen dunkle Schatten. Insgesamt sah sie sehr mitgenommen aus. Nur das beige Kostüm mit den schwarzen Nylonstrümpfen passte nicht so recht zu dieser Einschätzung.
»Etwas Besonderes ist seit unserer letzten Sitzung passiert«, stellte Mark Milton fest. »Vielleicht möchten Sie darüber reden.« Leider schwieg Sina Gabrillani wie erwartet, starrte nur an die gegenüberliegende Wand.
»Sie können Ihre Gefühle schlecht einordnen«, versuchte er ihr zu helfen. »Sie verspüren Trauer, aber in gewisser Weise auch Erleichterung.« Insgeheim hoffte Mark Milton, dass er die ungewöhnliche Farbzusammenstellung ihrer Kleidung richtig gedeutet hatte.
»Mein Vater ist gestorben«, erklärte sie plötzlich. »Bald ist die Beerdigung.«
»Mein herzliches Beileid«, sagte er, obwohl ihm dieser Spruch in diesem Moment selten hohl vorkam. Vielleicht war der Tod ihres Vaters weniger Leid als ein Befreiungsschritt.
»Sie müssen mir kein Beileid wünschen«, erwiderte sie zu seinem Erstaunen. »Ich fühle nichts. Keine Trauer, kein Bedauern, einfach nichts.«
»Das ist ungewöhnlich.«
»Trotzdem ist es so.«
»Soviel ich weiß, hatten Sie in der frühen Kindheit doch ein gutes Verhältnis zu Ihrem Vater.«
»In der Zwischenzeit ist zu viel passiert.«
Natürlich geriet Mark Milton in Versuchung, genauer nachzufragen. Aber dazu war sie noch nicht bereit, das wusste er nur zu gut. »Wie haben denn Ihre Geschwister reagiert?«, fragte er stattdessen.
»Im Gegensatz zu mir sind die sehr traurig, vor allem mein Bruder.«
Seltsam, überlegte Milton. Charakterzüge, die es unmöglich machten, einen Menschen zu lieben, müssten doch auch ihren Geschwistern aufgefallen sein. Oder hatte der Vater nur Sina etwas angetan? Zumindest stand für ihn zweifelsfrei fest, dass der Vater der Schlüssel zu ihren Problemen war.
»Den Tod Ihrer Mutter haben Sie ganz anders empfunden«, setzte er einen neuen Impuls.
Unwillkürlich zuckte seine Patientin zusammen, als habe sie jemand unerwartet berührt. Ihre Augen wanderten unruhig hin und her, die Finger nestelten an den Knöpfen ihres schicken Kostüms herum. Offensichtlich spielt auch der Tod ihrer Mutter bei ihrem Problem eine nicht unbedeutende Rolle, überlegte er. Schwangen da etwa unbewusst eigene Schuldgefühle mit? Ein weiterer verstohlener Blick auf Sina Gabrillani versicherte ihm, dass ihre starke Erregung noch immer nicht abgeklungen war.
»Woran ist Ihre Mutter gestorben?«, fragte er, weil er das mit einem Mal sehr wichtig fand.
Sina Gabrillani starrte ihn an, als hätte sie
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