Im Kreis des Wolfs
Heldentat zu berichten wussten: Eine gestrandete Kuh war gerettet,einem Nachbarn geholfen, ein Kind durch die Flut mit einem Boot zur Schule gebracht worden.
Wer am oberen Talende wohnte, musste mit dem Schlamm kämpfen, von dem es mehr als genug gab, so dass die meisten Leute lieber zu Hause blieben. Nur die wichtigsten Holzfällerwege waren passierbar, und an manchen Stellen brauchte man selbst dort mehr als nur den üblichen Allradantrieb, wenn man nicht steckenbleiben wollte.
Dreimal hatte J. J. Lovelace versucht, zu Fuß in den Wald vorzudringen, musste aber jedes Mal wieder umkehren. Er verbrachte die Tage im Trailer und war froh über die Ruhepause.
Von den letzten Anstrengungen taten ihm noch sämtliche Knochen weh. Seine Gelenke wurden ganz steif, wenn er sich eine Weile nicht bewegte, und knackten wie abgestorbene Äste, wenn er sich wieder rührte. Er war müde. Hundemüde. Doch sosehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht schlafen. Er schien vergessen zu haben, wie man das machte. Die ganze Nacht lag er wach und wehrte sich gegen Gedanken, die er nicht zulassen wollte. Tagsüber nickte er dann häufig ein, doch zuckte er immer wieder zusammen, als wolle sein Körper ihn warnen, dass der Schlaf eine Gefahr für ihn sei.
Fürs Lesen hatte er nie viel übrig gehabt. Das einzige Buch, das es im Trailer gab, war die ledergebundene Bibel, die Winnie ihm zu ihrer Hochzeit geschenkt hatte. Früher hatten ihm einige der Geschichten aus dem Alten Testament gefallen, die Geschichte von Hiob etwa oder die von Daniel, der in die Löwengrube geworfen wurde, von Samson, der sein Augenlicht verlor und den Tempel einstürzen ließ. Doch wenn er neuerdings las, begannen seine Gedanken nach einer Weile abzuschweifen, bis er schließlich merkte, dass er dieselben Zeilen wieder und wieder las.
Abgesehen vom Feuerholzschlagen und widerwilligem Essen und Trinken blieb ihm nur die Geweihschnitzerei, um sich die Zeit zu vertreiben. Er schnitzte schon seit Jahren. Winnie hatte immer gesagt, er hätte ein berühmter Bildhauer oder so was werden können. Sie hatte seine Figuren überall im Haus aufgestellt, aber er fand die in Andenkenläden schöner.
Mit Elchgeweih ließ es sich am besten arbeiten. Manchmal schnitzte er nur Köpfe oder Gürtelschnallen aus den Verzweigungen. Doch am liebsten arbeitete er mit dem ganzen Geweih und schnitzte Tiere, die sich zu jagen schienen: große Tiere wie Wölfe, Bären oder Elche am Fuß des Geweihs, dann immer kleinere, bis an der Sprossenspitze nur noch winzig kleine Eichhörnchen oder Mäuse zu sehen waren.
An dem Geweih, mit dem er fast fertig war, hatte er beinahe drei Wochen gesessen. Es war zwar nicht sein bestes, aber auch nicht sein schlechtestes. Jetzt brauchte er bloß noch den Namen auf die Unterseite zu ritzen. Er drehte den Docht in der Lampe ein wenig höher und beugte sich vor, um besser sehen zu können. Es war erst vier Uhr, aber draußen war es schon dunkel; außerdem goss es in Strömen. Er hörte den Regen auf das Wellblechdach der Scheune prasseln und die Tropfen von den Bäumen auf den Trailer fallen.
Eine Stunde später watete er durch die Pfützen zu Hicks’ Küchentür. Drinnen spielte Musik. Er klopfte und wartete, und einige Augenblicke später kam die Frau an die Tür. Sie schien sich bei seinem Anblick immer ein wenig zu erschrecken.
»Mr. Lovelace! Oh, tut mir leid, ich fürchte, Clyde ist noch nicht zurück.«
Offenbar dachte sie, dass er die Kiste mit Lebensmittelnabholen wollte, die ihr Mann ihm aus der Stadt mitbringen wollte.
»Deshalb bin ich nicht gekommen.«
Er hatte das geschnitzte Geweih in einen alten Lappen gewickelt. Als er es ihr reichen wollte, zuckte sie zusammen, als habe er eine Waffe gezogen.
»Oh, was …?«
»Das ist für den Jungen.«
»Für Buck junior?«
Er nickte. »Sie haben doch gesagt, er hat bald Geburtstag.«
»Ja, morgen. Das ist aber wirklich nett von Ihnen.«
Sie nahm es entgegen. Es regnete immer noch.
»Bitte, kommen Sie doch herein.«
»Nein, ich muss noch was erledigen. Wollte ihm das nur bringen.«
»Darf ich es mir ansehen?«
Sie schlug den Lappen zurück. Er hätte es in Papier einwickeln sollen. Sie hielt das Geweih in die Höhe. Er sah ihr an, dass es in ihren Augen ein seltsames Geschenk für ein Baby war.
»Ach, wie schön. Haben Sie das selbst gemacht?«
Er zuckte die Achseln. »Ist bloß so ein … Ding. Vielleicht, wenn er älter ist … Sehen Sie, sein Name steht drauf.«
»Das ist aber
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