Im Kühlfach nebenan
Klassenfahrt, bei der ich in der Mädchendusche
erwischt worden war. Wie hieß doch gleich die Tussi mit den riesigen Hupen …?
»PASCHA!«
Marlene hatte es inzwischen wirklich raus, ihrem Gebrüll die Intensität eines galaktischen Neuronensturms zu geben.
»Na ja, geh erst mal rein, wir sind ja bei dir.« Martin folgte den Hinweisschildern, die ihm den Weg um das Kloster herum
zur provisorischen Notschlafstelle in der Bibliothek wiesen. Vom Anblick des Saales beeindruckt, blieb er auf der Schwelle
stehen.
»Guten Abend, der Herr sei mit dir«, begrüßte ihn die Nonne freundlich. Leev Herrjöttche, wie die Kölner sagen, diese Frau
war eine fleischgewordene Versuchung. Ihre Haut so hell und rein wie die samtige Schale einer reifen Aprikose, die Augen leuchtend
hellblau, die Lippen ungeschminkt, aber trotzdem rosenrot, die Augenbrauen und die langen, seidigen Wimpern tiefschwarz. Der
Körperbau war trotz der sackartigen Nonnenkutte gut erkennbar und warf die Frage auf, ob der liebe Gott dieses Geschöpf aus
quasi |81| persönlichem Interesse in seine Dienste gerufen hatte. Sie war einfach märchenhaft. Schneewittchen, die ihre ungewaschenen
Zwerge um sich versammelte. Jedem sein Bettchen, jedem sein Tellerchen – ach nein, zu essen gab es nichts.
»Äh, ja, hallo«, erwiderte Martin nicht besonders eloquent.
»Möchten Sie diese Nacht hier schlafen?« Er nickte stumm. »Wenn Sie einen kleinen Beitrag zu unserer Unterstützung leisten
können und möchten, wäre das toll. Dort steht ein Sparschwein.«
Ganz schön geschäftstüchtig, dachte ich, wurde aber, Überraschung!, von Marlene gleich wieder zurechtgewiesen.
»Die wenigsten Menschen möchten immer auf Almosen angewiesen sein«, belehrte sie mich. »Es ist gut für die Würde und das Selbstwertgefühl,
wenn die Leute hier etwas bezahlen können. Die meisten geben sich Mühe, wenigstens fünzig Cent zu geben.«
Martin schlurfte derweil zu dem dicken, roten, breit grinsenden Sparschwein hinüber und zückte sein Portemonnaie aus der Jackentasche.
Schneewittchen sah die Bewegung aus dem Augenwinkel und schaute dann genauer hin. Vermutlich traf sie nicht so häufig auf
einen Kunden, der eine prall gefüllte Börse zückte und einen Schein ins Schwein faltete.
»Toll, dass Sie auch während der Umbauphase eine Notunterkunft anbieten«, sülzte Martin. Schneewittchen lächelte gütig. »Ja,
obwohl die Übergangslösung wohl jetzt noch etwas länger dauert nach dem Brand.«
»Schlimm, das mit dem Brand«, sagte Martin. »Ja.« Schneewittchens blaue Augen schwammen in Tränen. |82| »Schwester Marlene ist im Feuer gestorben und Schwester Martha liegt schwer verletzt im Krankenhaus.« Sie machte ein Kreuzzeichen.
»Sie fehlen uns sehr. Wir beten täglich für sie.«
»Das ist gut«, säuselte Martin. Als Rechtsmediziner hat er Erfahrung im Umgang mit Hinterbliebenen. »Wie konnte denn mitten
in der Nacht das Feuer ausbrechen?«, fragte Martin weiter. »Die Polizei sagt, dass es Brandstiftung war.« Sie bekreuzigte
sich wieder. »Dabei kann ich mir nicht vorstellen, wer uns so etwas antun sollte.« »Hatten Sie vielleicht Ärger mit einem
Ihrer, äh, Gäste? Mussten Sie jemanden abweisen, weil …« »So etwas kommt immer mal wieder vor …« »Ätsch«, machte ich zu Marlene, »siehst du?« »… aber nicht in letzter Zeit. Höchstens wenn jemand hier ganz betrunken ankommt, dann schicken wir ihn weg. Oder rufen die Polizei,
die ihn in die Ausnüchterungszelle steckt. Oh, entschuldigen Sie mich.« Schneewittchen ließ Martin stehen und half einem älteren
Mann, der kaum laufen konnte, auf die obere Liegefläche eines Doppelstockbettes.
»Warum schläft er nicht unten?«, fragte Martin den Nächstbesten.
»Wenn der über dir im Schlaf ins Bett nässt …« Martins Blick glitt hektisch über alle Betten. Die oberen waren komplett belegt. »War nur ein Scherz«, sagte der baumlange
Typ mit den Rastalocken und den zwei Wintermänteln. Er grinste fröhlich auf Martin herab. »Die meisten verbinden den ungehinderten
Blick nach oben mit Freiheit. Selbstbestimmung. Oder wie stellst du dir dein eigenes Bett vor? Als Doppelstöcker?«
Martin schüttelte den Kopf.
|83| »Ich bin Marley«, sagte der Rastamann. »Stammgast aus Überzeugung.« »Martin.«
»Neu hier?«
Leugnen wäre so was von zwecklos gewesen. Martin nickte.
»Ein Glück, dass es die Betten hier noch gibt. Wegen dem Brand, mein ich. Sogar
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