Im Kühlfach nebenan
eine Sünderin gewesen, die dem Herrn Jesus Christus nachfolgte. Und
sie tat dies mit unerschütterlicher Loyalität und bewundernswertem Mut. Sie flüchtete nicht nach seiner Verhaftung, wie die
Jünger es taten. Sie blieb mit zwei weiteren Frauen auch während Jesu Kreuzigung und seinem Sterben bei ihm. Das Matthäusevangelium
berichtet davon im Kapitel 16, Vers 7. Die Liebevollen Schwestern der Heiligen Maria von Magdala verstehen sich seit der Ordensgründung im 13. Jahrhundert als ihre Nachfolgerinnen. Wir sind reuige Sünderinnen, die sich mutig für die Ausgestoßenen und die reuigen Sünder
einsetzen. Deren Situation hat sich in den vergangenen siebenhundert Jahren verbessert, aber sie ist nicht zufriedenstellend.
Auch heute, in einer Zeit vergleichsweise großen Wohlstands, gibt es Arme und Schwache, die aus den unterschiedlichsten Gründen
nicht anerkannte Mitglieder der Gesellschaft sind. Ihnen zur Seite zu stehen, ist unsere heilige Pflicht, die wir mit Freuden
annehmen. Wir dienen Gott, indem wir den Menschen dienen, und zwar besonders jenen, die unserer Hilfe bedürfen. |193| Denn was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. So spricht der Herr.«
Einen Moment herrschte andächtige Stille auf dem Platz, dann sagte Susanne Gröbendahl verächtlich: »Schön. Aber warum gerade
hier?« Ein erregtes Raunen erhob sich unter den Zuschauern. Auch Birgit zuckte bei diesen Worten zusammen, schüttelte dann
den Kopf, verließ ihren Platz und schob sich seitlich an den Zuschauern vorbei zur linken Steintreppe, die zum Kloster führte.
Sie nahm die wenigen Stufen mit offenbar zornigem Elan und verschwand damit hinter dem riesigen Übertragungswagen und aus
dem Blick der Zuschauer. Wenige Sekunden später läutete sie an der Klosterpforte. Ich blieb dicht bei ihr.
Die Nonne, die heute Pfortendienst hatte, begrüßte Birgit freundlich. Ihr wachsamer Blick erkannte sofort, wen sie vor sich
hatte. Sie zog Birgit durch die Tür, warf einen kritischen Blick nach draußen und schloss die Klosterpforte von innen zweimal
ab.
»Was können wir für Sie tun?«, fragte die Nonne freundlich.
»Ich weiß nicht, wo ich hinsoll«, stammelte Birgit. »Ich habe gehört, dass Sie mir vielleicht helfen können?« »Vor wem wollen
Sie sich verstecken?«, fragte die Nonne.
»Vor meinem Freund«, jammerte Birgit. »Also, das heißt, ich dachte, er wäre mein Freund. Aber in Wahrheit …«
»Kommen Sie mit.« Die Nonne legte Birgit den Arm um die Schultern und führte sie zum Noviziat. Dort übernahm die schlitzohrige
Schlitzäugige den Neuankömmling. Aha, das also war Marlenes Lieblingsschwester: ihre Nachfolgerin.
»Ich bin Schwester Johanna. Ich kümmere mich um die
|194| Frauen, die bei uns Zuflucht suchen. Ist es das, was Sie zu uns führt?«
Birgit nickte.
»Ich zeige Ihnen ein Zimmer, in dem Sie sich einrichten können. Wenn Sie allein sein möchten, bleiben Sie in Ihrem Zimmer,
aber wenn Ihnen nach Gesellschaft ist, können Sie in den Aufenthaltsraum gehen, dort ist eigentlich immer jemand.«
Schwester Johanna zeigte auf die Tür des Aufenthaltsraumes, dann brachte sie Birgit zu einer Klosterzelle. »Ich muss gleich
kurz weg, aber heute Nachmittag bin ich ganz für Sie da – falls Sie reden wollen oder Fragen haben oder einfach nur jemanden
brauchen, der Ihre Hand hält. Okay?«
Birgit nickte.
Schwester Johanna wandte sich ab und eilte den langen Flur zurück. Ich wollte Birgit gerade in ihr Zimmer folgen, als eine
Welle der Empörung und des Ärgers über mich hereinbrach. Marlene.
»Was hat das zu bedeuten?«, rief sie aufgebracht. »Marlene, wo warst du denn die ganze Zeit? Ich dachte schon, du müsstest
in der Hölle schmoren, nachdem du das liebe Jesulein so zotig angepöbelt hast.« Mein Einwand kam offenbar nicht gut an. »Ich
frage noch einmal: Was hat das zu bedeuten?« Ich versuchte, ihr die Sache möglichst schonend beizubringen, aber sie war so
außer sich, dass sie nichts riffelte. »Du bist gegen meinen ausdrücklichen Willen ins Noviziat eingedrungen? Und schleppst
jetzt auch noch die Freundin von deinem Rechtsmediziner hier herein? Und sie lügt die arme Johanna und alle anderen Frauen
an, weil sie etwas in Erfahrung bringen will, das niemanden etwas angeht – außerhalb dieser Mauern!«
»Marlene, genau das ist ja das Problem: Eine Informa-
|195| tion über dieses, äh, besondere Asyl ist bereits nach außen
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