Im Land der Feuerblume: Roman
Verlegenheit.
Elisa hob verwundert den Kopf. Ihr war nicht aufgefallen, dass Christl dergleichen Sympathien hegte, doch als sie darüber nachdachte, kam ihr in den Sinn, die älteste Steiner-Tochter häufig in Viktors Nähe gesehen zu haben. Er wirkte auf sie stets verdrossen und hatte wenig mit dem schüchternen Knaben von einst gemein. In jener Nacht, da sie Konrad Webers Hazienda verlassen hatten, schien er erwachsen geworden zu sein. Nachdem er mit seiner Schwester in den ersten Monaten bei den Steiners gelebt hatte, hatte er eine eigene Parzelle Land gefordert, und alle hatten geholfen, um auch ihm ein Haus zu errichten.
»Wusst’ ich’s doch, dass du den Viktor magst!«, spottete Lenerl.
»Das ist nicht wahr!«, hielt Christl erneut entgegen.
Ich werde blind für die Menschen, dachte Elisa betroffen.
Manchmal war ihr, als gäbe es nur sie und das Land und die Arbeit, und der Einzige, der hin und wieder darin auftauchte, war Lukas. Damals, bei der Ankunft am See, hatte sich ehrfürchtige Stille über sie gesenkt, und am wohlsten fühlte sie sich immer noch, wenn sie sich von den anderen absondern, in das dunkelblaue Wasser oder hoch zum schneebedeckten Osorno starren konnte, um sich ihrer Sehnsucht hinzugeben – der Sehnsucht nach Cornelius, mit dem sie so gerne die Last, aber auch die Dankbarkeit teilen würde, eigenes Land zu haben und es zu beackern.
Sie sprach fast nie mit jemandem über ihn. Nachts schlief sie meist so tief und fest, dass der alte Traum nicht wiederkehrte, und die schwere Arbeit ließ es oft nicht zu, an ihn zu denken, sich sein Bild vor ihr heraufzubeschwören. Und dennoch: Sie trug ihn tief in ihrem Herzen, und in den knappen Augenblicken des Innehaltens war er ihr so nah wie eh und je.
»Hört mit dem Streiten auf!«, schalt Christine, ehe sie gemeinsam mit Fritz den lahmen Jakob an den Tisch schleppte. Der ließ es mit ausdruckslosem Blick über sich ergehen. Nur wenige Male hatte er lautstark die Klage angestimmt, dass er sich nutzlos und im eigenen Leib wie ein Gefangener fühlte, ansonsten schwieg er schicksalsergeben.
»Die Nichten von Barbara haben kein Fest im Kopf, sondern ihre Arbeit«, sagte Fritz streng. »Zwei von ihnen sind letztens nach Melipulli aufgebrochen, um dort als Dienstmägde zu arbeiten und für die Familien etwas dazuzuverdienen. Sie haben alles, was sie besaßen, auf den Rücken gebunden und sind ganz allein durch den Wald gestapft. Solltest dir daran ein Vorbild nehmen.« Er nickte grimmig, um seine Worte zu bekräftigen.
»Bist du verrückt?«, schrie Christl auf. »Ich gehe doch nicht allein in den Wald. Sterben würde ich vor Angst!«
Der Blick von Fritz wurde verächtlich. »Als ob das der wahre Grund wäre! Die größte Angst hast du doch davor, andernorts wirklich arbeiten zu müssen.«
»Mutter!« Hilfesuchend wandte sich Christl an Christine. »Ich muss doch nicht weggehen, oder? Du schickst mich und Lenerl doch nicht fort?«
Das Katherl, das neben Lukas am Tisch saß, lachte glockenhell dazwischen.
»Still!«, rief Christine streng. »Alle beide. Ihr geht nirgendwo hin.«
Elisa rührte weiterhin in dem Kessel und wollte ihn, da die Kartoffeln mittlerweile weich gekocht waren, vom Haken nehmen. Wie immer würde der Kessel in der Mitte des Tischs stehen und sie alle gemeinsam daraus essen. Es gab keine Zeit, Teller und Schüsseln zu schnitzen.
»Ich helfe dir!«
Sie hatte nicht bemerkt, dass Lukas sich erhoben und zu ihr getreten war und nun an ihrer statt den Kessel nahm.
Er blickte mit gerunzelter Stirn hinein. »Kartoffeln und Kraut«, stellte er seufzend fest. »Wann gibt’s nur endlich wieder Fleisch?«
»Vielleicht beim Fest?«, schlug Elisa vor, obwohl sie nicht sicher war, ob es tatsächlich ein Fest geben würde oder Christl sich das nur ausgedacht hatte. Sie überlegte, wer im Zweifelsfall überhaupt darüber entscheiden würde, und kam zum Schluss, dass es weniger die Männer ihrer Siedlung waren als vielmehr die Frauen – allen voran Christine, Annelie und Barbara. Auch Jule würde sich kräftig einmischen wie bei jedem Entschluss, der bislang gefällt worden war, wobei es meist überhaupt erst Jule war, die Christine dazu brachte, eine Position zu beziehen. Elisa hatte Jule im Verdacht, dass sie mit Absicht immer das Gegenteil dessen behauptete, was sie eigentlich erreichen wollte, weil sie auf diese Weise sicher sein konnte, dass sie Christine nur scheinbar als Gegnerin, in Wahrheit aber auf ihrer Seite hatte. Und
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