Im Land der Feuerblume: Roman
sie sich auf den pflichtbewussten Fritz – doch gemeinsam schweigen, sich ausruhen, nachdenken konnte sie am besten in Lukas’ Gegenwart.
Er schien nicht zu bemerken, dass sie ihn betrachtete. Einmal war ihr, als würde sein Gesicht zucken, ein Zeichen, dass er innerlich weinte, doch kein Laut kam über seine Lippen. Unwillkürlich rückte sie näher, strich ihm vorsichtig über die Schultern, und er ließ sie gewähren.
»Es tut mir so leid, was geschehen ist. Es tut mir so leid.«
Obwohl sie leise gesprochen hatte, hatten in der bleiernen Stille, die sich über sie gesenkt hatte, alle ihre Worte gehört.
Richard hob verwundert den Kopf. »Was ist los? Was ist passiert?« Es waren seit langem die ersten Worte, die er sprach, doch der Anlass war zu traurig, um sich darüber zu freuen. Annelie, die eben noch neben Christine gesessen war, trat zu ihm und streichelte über seinen Kopf. »Es ist gut«, murmelte sie, »es ist alles gut.«
Das Katherl lachte auf, hell und klar. Bereits dieser Laut ließ sie alle zusammenschrecken, umso mehr tat es das Klopfen, das kurze Zeit später ertönte. Lukas und Elisa sprangen fast gleichzeitig auf; Christine fuhr herum. Fritz eilte zur Tür, presste sein Ohr daran und lauschte argwöhnisch. Wer würde so spät am Abend hier auftauchen, wenn nicht Konrad Weber? Doch was trieb ihn hierher – etwa die Sorge um Jakob?
Wieder klopfte es, und als Fritz auf ein Zeichen seiner Mutter hin die Tür schließlich zögerlich öffnete, stand nicht Konrad Weber, sondern eine Familie davor. Ein Mann und eine Frau, die Elisa schon einmal flüchtig gesehen hatte, sowie zwei Kinder. Der Sohn schien in Poldis Alter zu sein – vor einigen Monaten war er vierzehn Jahre alt geworden –, die Tochter nur wenig jünger.
»Dürfen wir eintreten?«
Fritz wich zurück. Ein Raunen ging durch den Raum. Sie wussten, dass sie nicht die einzigen Auswanderer waren, die in Konrads Hände geraten waren. Auch andere Familien hausten in Baracken ähnlich der ihren und arbeiteten auf den Feldern der Hazienda oder in den Wäldern, doch sie hatten wenig mit ihnen zu tun. Man grüßte sich von der Ferne, aber man sprach nicht miteinander, ebenso wie die Begegnungen mit den Familien, die wie sie mit der Hermann III. gereist waren, rar geworden waren.
»Wir sind die Familie Glöckner«, begann die Frau. »Ich bin Barbara, das ist mein Mann Taddäus, und unsere Kinder heißen Theresa und Andreas.«
Taddäus Glöckners Blick schweifte durch den Raum und blieb am verwundeten Jakob hängen. Offenbar hatte sich dessen Unfall herumgesprochen, denn er wirkte nicht überrascht. Elisa ihrerseits musterte die Familie, die ungewöhnlich gekleidet war. Die Jacke des Mannes reichte knielang über Hemd und Hosen. Die Frau trug eine blumige, wenngleich zerrissene und verdreckte Schürze über ein dunkles Kleid, darüber ein schwarzes Plaid. Sie alle hatten Filzhüte auf.
»Wir kommen aus Tirol …«, setzte Barbara Glöckner an, »nein, eigentlich kommen wir aus Schlesien.«
Jule hatte sich nicht erhoben, beugte jedoch ihren Oberkörper nach vorne. »Eine sehr weite Reise für diesen Abend.«
»Nun lass sie doch ausreden!«, forderte Christine streng.
»Natürlich sind wir nicht heute Abend von dort gekommen«, erklärte Barbara, und obwohl sie langsam sprach, machte sie einen entschlossenen Eindruck. »Wir sind seinerzeit mit der Susanne in See gestochen. Zwei Jahre ist das her. Wir mussten viele Stürme ertragen, vor allem am Kap Hoorn.«
Elisa nickte unwillkürlich. Ihr selbst war der Sturm, den sie in der Magellanstraße durchlitten hatten, noch allzu gut in Erinnerung.
»Es war November, als wir in Corral eingelaufen sind«, fuhr Barbara fort. »Einige Monate später sind wir in Konrads Hände geraten. Er hat uns mit den gleichen Lügen gelockt wie euch: dass wir nicht das erwartete Land bekämen – zumindest nicht von der Regierung, vielleicht aber irgendwann von ihm – und dass er bis dahin für uns sorgen würde. Ja, er hat viele schöne Worte gemacht …«
Sie brach ab, musste aber auch nichts weiter erklären. Alle wussten, dass Konrad die Schwäche und Unsicherheit der Auswanderer schamlos für seine Zwecke ausnutzte.
»Warum wir hier sind …«, ergriff Barbara Glöckner nach einer Weile wieder das Wort, »nun, wir sehen hier keine Zukunft für uns und für unsere Kinder. Und euch geht es gewiss nicht anders, vor allem nach dem, was heute passiert ist. Wir kennen einen Ort, wohin wir alle gehen
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