Im Land der gefiederten Schlange
Martin. Soweit ich weiß, lebten beide Martin selig bis an ihr Ende. Der eine war eben der spanische Martin und der andere der erste der vermischten Mexikaner.«
Sie liebte seine Geschichten. Sie wünschte, sie hätte sie alle als Kind erzählt bekommen, während sie in das Land, dem die Geschichten gehörten, hineinwuchs. »Benito«, sagte sie, »ich will etwas tun mit meinem Leben, wenn wir zurück in die Stadt kommen. Du gehst auf die Universität, das ist gut und richtig so, und ich warte auf dich, aber ich will nicht tatenlos warten.«
»Und was willst du tun? Englisch lernen?«
»Nein, Nahuatl«, sagte sie und wunderte sich. Aber es war gut und richtig so.
Als er zum zweiten Mal von seinem Capitán zurückkam, berichtete er, der Brigadegeneral Morales habe die Kapitulation von Veracruz erklärt. Um sicherzugehen, würden sie noch bis zum Abend im Keller bleiben, dann aber war es an der Zeit, in die Welt zurückzukehren. Es war eine zerschlagene, in die Knie gezwungene, heulende Welt. Vom heißen Atem der Stadt war nur noch ein Röcheln übrig. Sie würde jeden, der noch Kraft hatte, brauchen. Sosehr Katharina ihr Idyll in dem Keller geliebt hatte, so richtig erschien ihr, dass es vorbei war. Ihre Liebe gehörte in kein Märchen hinter Dornenhecken. Sie gehörte in die Wirklichkeit.
Die Brauerei war ein bis auf die Grundfesten niedergebrannter Ascheberg, aus dem Rauchfahnen züngelten. Zudem hatte die Familie bis auf das alte Kontor, in dem sich wertloses Gerümpel stapelte, sämtliche Warenlager verloren. Was sie aufgebaut, worum sie mit Klauen und Zähnen gekämpft hatten, seit Großvater Lutenburg und Großonkel Hartmann aus der Heimat nach Veracruz gekommen waren, existierte nicht mehr.
Ihre Mutter schrie, sobald sie Katharina auf der Straße erspähte, als käme ihr ein Geist entgegen. Später begriff Katharina den Grund. In Veracruz gab es kaum eine Familie, die nach der Schlacht noch vollzählig war. Vor ihrer eigenen Familie, die doch der Krieg nichts anging, hatte das Wüten nicht haltgemacht.
Katharina kannte ihre Mutter als beherrschte, tadellos gepflegte Frau, doch jetzt war ihr Haar zerrauft und ihre Kleidung verdreckt. Sie umschlang Katharina, als würde sie an ihr Halt suchen, verbrachte die Nacht bei ihr, ließ sie selbst im Schlaf nicht los. Erst am Morgen gewann sie ihre Fassung wieder und rief die Tochter zum Strafgericht, das milde und kraftlos ausfiel. Im Angesicht des Todes wurde selbst die himmelschreiendste Untat zur Lappalie.
Außerdem erhielt Katharina Schützenhilfe. Kaum hatte die Mutter ihr ins Gesicht geworfen, dass es keine Georgia Temperley gebe, klopfte es, und die Sanne führte Stefan herein. »Ich fürchte, mein Kartenhaus ist eingestürzt«, murmelte er. »Ich möchte nicht, dass Kathi für etwas bestraft wird, das ich getan habe.«
»Wirst du es jemals lernen, jemandem ins Gesicht zu sehen, wenn du mit ihm sprichst, Stefan Hartmann?«, herrschte die Mutter ihn an. »Wäre dein Vater am Leben geblieben, er hätte dir dieses feige Kopfeinziehen aberzogen, darauf kannst du Gift nehmen.«
Stefan hob das Gesicht. »Es geht um Georgia«, sagte er.
»Schert euch zum Teufel mit eurer Georgia, ihr zwei Lügner! Die Wahrheit will ich. Und zwar sofort.«
»Ich habe Katharina gebeten, für mich zu lügen«, erwiderte Stefan. »Sie sollte sagen, sie habe mich bei der Tochter der Temperleys gesehen, um zu vertuschen, was ich an diesen Abenden wirklich tat.«
Verblüfft wandte Katharina den Kopf. Georgia gab es tatsächlich nicht! Wen aber hatte er dann im Haus der Temperleys besucht?
»Ich will die Wahrheit«, forderte die Mutter noch einmal. »Andernfalls gehe ich augenblicklich zu Traude, und wir besprechen die Angelegenheit mit ihr.«
Und wenn?, durchfuhr es Katharina. Was sollte Traude denn tun, dem langen Stefan den Hintern versohlen? Er war ein erwachsener Mann, wovor hatte er Angst?
»Ich habe mich mit einem Dienstmädchen eingelassen«, murmelte er und schlug den Blick wieder nieder. »Ich bitte dich, meiner Mutter nichts davon zu sagen. Es wäre ihr Untergang.«
»Das weiß ich«, versetzte seine Tante, »und du hättest es auch wissen sollen, und zwar bevor du nicht nur deine Mutter, sondern deine gesamte Familie vergessen hast, um deinen widerlichen Trieb auszuleben. Du kannst beruhigt sein, ich werde Traude nicht sagen, wie sehr sie sich in ihrem Goldkind irrt. Dafür verlange ich, dass du künftig meine Tochter aus deinen Schweinereien heraushältst. Und dass
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