Im Land der gefiederten Schlange
aber Benito hörte nichts. Vielleicht hatte Carlos keine Stimme mehr, oder das Rauschen in seinen Ohren übertönte sie.
Benito warf das Öltuch weg, um das Leder auf der Haut zu spüren. Ehe seine Beine ihm den Dienst versagten, fiel er auf die Knie. Heftig wünschte er zu weinen, nicht wie Carlos, dem die Tränen stumm über die Wangen liefen, sondern so wie als Kind, laut und trotzig die Verlassenheit aus sich herausweinen, bis ihm einer die Hand entgegenstreckte und ihm mit einem Lächeln zurief: Hola, kleiner Bruder, nicht weinen. Ich warte doch auf dich.
Aber er konnte ja nicht weinen, weil feststand, dass niemand kommen und diese Worte zu ihm sagen würde. Er erhob sich. Er musste sich um Carlos kümmern, nicht nur jetzt, sondern für alle Zukunft. Die ledernen Handschuhe presste er in seinen Fingern zusammen, bis der Schmerz ihn begreifen ließ: Die Hände, die in den Handschuhen gesteckt hatten, waren nicht mehr da.
26
Es war wie früher in Querétaro – an manchen Tagen wäre Inez am liebsten nicht aufgewacht. Solange sie das Gesicht ins Kissen drückte, konnte sie sich in Träumen verlieren, aber sobald sie die Augen aufschlug, stürzte die trostlose Wirklichkeit auf sie ein. An manchen Tagen beneidete sie Carmen, die das elende Dasein klaglos hinnahm. Es war nicht Inez’ Schuld, dass sie für ein solches Leben nicht geboren war.
Sie war bereit gewesen, sich bei den Engländern als Magd zu verdingen, weil sie hoffte, in Benitos Nähe zu sein, und weil ihr die Engländer gefielen. Große, helläugige Burschen in hinreißenden Anzügen und mit Geld, das ihnen aus den Taschen quoll. Stattdessen arbeitete sie unter einer verkniffenen Köchin, und der Sohn des Hauses war ein dicklicher Rotschopf, der nicht größer war als Juan und durch Inez hindurchsah. Er beschäftigte einen Sekretär, der zu Benitos Deutschen gehörte und groß und blond wie ein Erzengel war, aber auch der sah durch Inez hindurch. Zudem machte sie sich nichts vor, ein Extranjero würde ihr ohne Umschweife ein Kind in den Bauch machen, aber er würde sie im Leben nicht heiraten. Sie wollte einen Mann ihres Volkes, der es mit den Fremden aufnehmen konnte. Sie wollte Benito Alvarez.
Und der hatte eine andere.
Sie hatte die Arbeit hingeworfen. Als Benito am Abend zu Pferd in der Vorstadt auftauchte, glaubte sie, er käme, um ihr die Leviten zu lesen. Stattdessen rief er alle in der Hütte seiner Mutter zusammen und teilte ihnen mit versteinerter Stimme mit, dass er morgen Carlos bringe, der Pflege brauche und nicht mehr arbeiten könne. Und dass Miguel gestorben sei.
Inez stand im Eingang des Hauses und sah, wie die Mutter auf Benito losging. Sie war eine kleine Frau, und er war ein großer Mann. Sie hämmerte mit ihren kleinen Fäusten auf ihn ein, traf seine Brust, seinen Hals und ab und an sein Gesicht. Einmal seine Lippe, aus der sogleich Blut strömte. »Du hast ihn sterben lassen, du, du, du!«, schrie sie. »Meinen Miguelito. Du hast gesagt, du beschützt ihn, und jetzt ist er tot! Mein Miguelito hatte den Hals in der Schlinge, und du hast den Deutschen den Speichel geleckt!« Zuletzt verloren sich die Worte in einem einzigen spitzen Schrei. Benito stand still und ließ Schreie und Schläge auf sich einprasseln. Irgendwann ging Carmen hin und zog die Mutter weg. »Du bist grausam«, sagte sie zu ihr. »Dass du ungerecht bist, nimmt dein Sohn seit langem hin, aber du solltest nicht grausam sein.«
Benito stand weiter reglos da, nachdem Carmen die Mutter weggebracht hatte. Irgendwann ging er zu seiner Schwester, die am Boden lag und heulte. Er hob sie auf und klopfte ihr das Kleid sauber, von den Füßen bis zum Hals. »Schaffst du das, Xochitl, dich um die Mutter zu kümmern? Ich muss Carlos holen, bei meiner Wirtin kann er nicht bleiben, aber ich komme so schnell ich kann zurück.« Die Geschwister umarmten einander, und Inez dachte: Ich will, dass er mich so hält. Er hat, was in meiner Familie kein Mann hatte, Biss und Kraft und vornehme Hände. Und ein Herz hat er auch, und ich weiß manchmal schon nicht mehr, was das ist.
»Benito«, sagte die Schwester, »wie ist Miguel gestorben?«
»Nein, Xochitl, Tlazotlalistli, frag das nicht. Du bist besser dran, wenn du es nicht weißt.«
Xochitl, die er Tlazotlalistli, sein Liebes, nannte, nahm den Saum ihres Ärmels zwischen zwei Finger und presste ihn auf seine Lippe, aus der weiter Blut strömte. Es hatte längst sie beide beschmutzt, sein weißes Hemd und ihr dreckiges
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