Im Land der gefiederten Schlange
Kleid. »Sag’s mir, Icniuhtli, mein kleiner, mein einziger Bruder.«
Benito nahm ihre Hand von seiner Lippe. »Lass es laufen, ja? Wenn ich nicht weinen kann, ist Bluten nicht so schlecht.«
»Wie ist Miguel gestorben?«
»Er ist verdurstet.«
Sie sahen einander in die Augen, er blutete und sie weinte, und sie hielten sich fest. Mich hat nie jemand richtig geliebt, dachte Inez. Ich will, dass dieser Mann mich liebt, dieser starke, schöne, entschlossene Mann, der in der Lage ist, für eine Frau zu sorgen.
Er ging, um Carlos zu holen, der sich das Gedärm und ein Bein hatte zerschießen lassen. »Er lebt nicht mehr lange«, sagte er, als Carmen zurückkam. »Bitte pflegt ihn, so gut ihr könnt.«
In der Nacht versuchte seine Mutter sich das Leben zu nehmen. Sie schluckte Gift, kein Mensch wusste, woher sie es hatte. Xochitl fand sie, als sie aufstand, und schrie wie ihre Mutter am Abend zuvor. Carmen nahm ihr die Mutter ab und steckte ihr den Finger in den Hals, bis ihr Erbrochenes den Arm hinunterrann.
Als Benito mit Carlos auf dem Schimmel zurückkam, war das Schlimmste vorüber. Die Alte hatte so viel erbrochen, dass der Boden der Hütte schwamm. Sie war in eine Art Ohnmacht gefallen, und Carmen und Xochitl zogen sie auf ihr Lager. Benito erfasste, was geschehen war, und trug Carlos in die andere Hütte, die Inez hätte sauber halten sollen. Er legte ihn auf das verdreckte Bett. »Ruhen Sie sich aus. Von irgendwoher bekommen wir sicher gleich Wasser und frische Laken.«
Ich will, dass dieser Mann mich liebt, dachte Inez. Dieser Mann, der die Fassung nicht verliert, solange jemand ihn braucht, und der all diese Leute liebhat. Ich will von ihm lernen, wie man das macht. Wie man zu jemandem gehört.
Er ging in die Hütte seiner Mutter, bat Carmen, das Nötigste für Carlos zu beschaffen, und ritt wieder los, um mit einem Arzt zurückzukehren. Der brachte die Mutter noch einmal zum Erbrechen, ehe er sie schlafen ließ, Benitos Geld nahm und davonfuhr. Kaum war er fort, begann Xochitl wieder zu schreien. »Weshalb will sie denn für uns nicht leben?«, schrie sie ihren Bruder an. »Weshalb beträgt sie sich, als hätte sie nur ein Kind gehabt und hat jetzt keines mehr? Sind wir gar nichts, Benito, sind wir weniger als nichts?«
»Denk das nicht«, brachte Benito heraus. »Sie hat dich lieb, sie ist rasend vor Schmerz, sie weiß nicht, was sie tut.«
Die zwei, Xochitl und Miguel, haben völlig vergessen, dass er der jüngste von ihnen ist, durchfuhr es Inez. Sie laden ihre Last bei ihm ab, weil er Schultern wie ein Ringkämpfer hat, aber er ist nicht viel älter als zwanzig. Sie wünschte sich, ihre Last auf seinen Schultern abzuladen und zu vergessen – den Krüppel Carlos, den Dreck der Vorstadt, all das Elend, das ihr am Hals hing.
»Benito?«, stammelte die schluchzende Xochitl.
»Was denn, meine Blume?«, erwiderte Benito.
»Du triffst dich nicht mehr mit der Deutschen, nicht wahr? Du weißt, das hielten wir nicht auch noch aus.«
»Sie heißt Katharina«, sagte Benito, »nicht die Deutsche.«
»Benito …«
»Ja, ich treffe mich mit ihr«, fiel er ihr ins Wort. »Ich werde für euch sorgen, und da wir auf Carlos und Miguel nicht mehr zählen können, gehe ich nicht nach Mexiko-Stadt. Ich werde nicht tun, was ich will, aber ich werde lieben, wen ich will, und kein Mensch auf der Welt hat das Recht, mich dafür totzuschlagen. Es ist weder Mord noch Raub, ein Mädchen zu lieben, Xochitl.« Er stand hoch aufgerichtet, und Inez fand ihn so schön, dass sie glaubte, sie hätte töten können, um ihn zu bekommen.
Inez,
sollte er sagen, wie er
Katharina
gesagt hatte. Rückhaltlos, kämpferisch und dabei so zärtlich, dass ihr das Bild vor Augen verschwamm.
»Du begreifst nicht!«, rief Xochitl.
»Nein«, stimmte Benito ihr zu, »ich will nicht begreifen, und ich will jetzt auch nicht mehr davon sprechen. Wir haben eure Zukunft zu bedenken. Du und Carmen und Inez, ihr werdet heiraten wollen, und für die Mutter und Carlos muss gesorgt sein. Ich will euch von hier fortbringen, dorthin, wo Miguel euch haben wollte. Nach Querétaro. Der Krieg dauert nicht mehr lange.«
In diesem Augenblick beschloss Inez, in die Siedlung der Deutschen zu gehen und Benito zu verraten. Er wollte sie mit einem lebenden Leichnam und einem Haufen Weiber zurück in die Einöde schaffen, während er der Fremden das Leben bot, das Inez gebührte. Carmen hatte ihr erzählt, was die Deutschen ihm angetan hatten, weil er sich in
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