Im Land der gefiederten Schlange
austreiben. Vermutlich sehen sie zwischen dem, was der Soldat deiner Base angetan hat, und dem, was ich mit dir tue, keinen Unterschied. Na komm, lass den Kopf nicht hängen. Wollen wir essen gehen? Am Malecon, wo es die kleinen Tintenfische in der schwarzen Tinte gibt?«
»Du musst dein Geld sparen.«
»Den Teufel muss ich. Lass mich dein Haar in Ordnung bringen und komm.«
Sie gingen die Treppe hinunter. Katharina wirkte nicht mehr so niedergeschlagen, und das war die Ausgabe wert. Auf den letzten Stufen wären sie beinahe mit Doña Esmé zusammengeprallt. Sie warf Katharina einen ihrer giftigen Blicke zu, dann wandte sie sich an Benito. »Gerade wollte ich zu Ihnen. Sie haben einen Gast. Ich habe ihn gebeten, ein andermal wiederzukommen, aber er sagte, es könne nicht warten.«
Katharina schob ihre Hand in seine und drückte sie, doch es kam ihm vor, als würde er den Druck nicht mehr spüren. Etwas in ihm wurde kalt. »Warum haben Sie ihn nicht hochgeschickt?«, fragte er.
Doña Esme schüttelte den Kopf. »Der Ärmste kann doch keine Treppen mehr steigen. Ein Wunder, dass der sich überhaupt bis hierher geschleppt hat.« Sie drehte sich um und ging ihnen voran die Stufen hinunter. Unten im kühlen Dunkel des Hausflurs stand ein Skelett, an die Wand der Loge gelehnt. Ein mit Haut und einem durchlöcherten Mantel bespanntes Skelett, das Benito aus hohlen Augen anstarrte und den Mund zu etwas verzog, das einmal ein Lächeln gewesen sein mochte. Um den Bauch trug es eine breite, ehemals weiße Binde, die ein schwärzlicher Blutfleck verunzierte. Das Skelett stützte sich auf ein Bein und zwei Krücken, das zweite Hosenbein hing leer herunter. Warum haben sie den armen Kerl nicht sterben lassen?, durchfuhr es Benito. Dann erkannte er ihn. Das Skelett war Carlos.
»Hola«, sagte er aufgesetzt, »hat man Sie nach Hause geschickt?« Für die Albernheit der Frage hätte er sich ohrfeigen können.
Auf Carlos’ Skelettgesicht stand unbeirrt das fratzenhafte Grinsen. Ist Miguel auch hier?, wollte Benito fragen, doch die Frage blieb ihm im Hals stecken. Ich will es nicht wissen. Was immer es ist, geh und sag es mir nicht.
»Señor Alvarez«, begann Carlos mit krächzender Stimme, »hätten Sie vielleicht einen Schemel? Nur ein paar Augenblicke? Und ein wenig Wasser?«
Katharina wollte gehen, aber Benito, der froh war, etwas zu tun zu haben, drängte sich an ihr vorbei in den Hof. Aus dem Verschlag sah ihm das Pferd entgegen, der blutjunge Schimmel, den er Cuatl rief. Übermächtig war der Wunsch, sich wie als Junge hinter dem Pferd zu verbergen und das Gesicht an den dampfenden Leib zu pressen. Nur nicht ins Haus zurückmüssen, nur mich nicht stellen. Als er die Augen schloss, tanzte durchs Schwarz ein Strick, an dem der Leib eines Menschen baumelte. Er nahm den Melkschemel, füllte am Fass einen Becher Wasser und ging zurück.
Carlos brauchte Hilfe, um sich auf dem Schemel niederzulassen. Als er bemerkte, dass Benito auf die Binde um seine Mitte starrte, zuckte er mit den Schultern. »Ein Bauchschuss. Schon im März. Sie haben mich ganz ordentlich geflickt, nur die Wunde will einfach nicht heilen.«
Dann brach er ab. Benito beugte sich nieder, um ihm das Wasser zu reichen, und sah, dass ihm Tränen übers Gesicht liefen. Er brauchte lange, um den Becher zu leeren. »Wir haben gedacht, sie lassen uns hier«, sagte er dann. »So ramponiert, wie wir waren, ohne Munition, ohne Proviant und mit all den Verwundeten. Aber gleich nach der Kapitulation hat man uns wieder in Marsch gesetzt. In die Berge über der Straße. General Scotts Versorgungszügen den Weg abschneiden.« Er nippte noch einmal an dem Becher, aber es war kein Wasser mehr darin. Benitos Herz war eine Silberhacke, die wie auf Gestein gegen seine Rippen drosch. »Es war schlimm«, flüsterte Carlos. »Das mit dem Wasser war das Schlimmste.«
»Was war mit dem Wasser, Carlos?«
»Wir hatten keines. Wir waren viel länger unterwegs, als wir dachten. Immer weiter. Immer höher. Die, die nicht weiterkonnten, sollten wir liegen lassen. Ich weiß nicht, warum ich überlebt habe, erst mit dem Bauchschuss und dann mit dem Bein. Miguel war nicht verwundet. Toll gekämpft hat er, hatte sich nur irgendwo dieses Fieber geholt und hatte solchen Durst.« Carlos schob eine Hand in den Tornister und zog ein in Öltuch gewickeltes Päckchen heraus. Er schlug das Tuch zurück, nahm Benito beim Gelenk und schob ihm das Päckchen in die Hand. Seine Lippen formten Silben,
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