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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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und die Übrigen, die Mädchen einredeten, man nähme »das Bluten« nicht in den Mund, taugten als Helfer ebenso wenig. Katharina packte der Zorn. Sie drückte die Base an sich. »Es gibt Wege, Jo. Verlass dich auf mich.« Ob es solche Wege wirklich gab, wusste sie nicht, aber dass das Schwein, das Jo das angetan hatte, ihr Leben zerstörte, durfte nicht sein. Wenn es Wege gab, so wusste sie, wer Manns genug war, sie zu gehen. »Ich frage Benito«, sagte sie zu Jo. »Er wird uns helfen, das verspreche ich dir.«
    »Wird er mich nicht für Dreck halten? So wie unsere Männer? Zu mir kommt keiner mehr, nicht mein Vater und nicht meine Brüder, als hätte ich die Pest.«
    Katharina überlegte, dann strich sie Jo übers Haar. »Nein, Süßes. Benito hält den für Dreck, der das getan hat. Wenn ihn jemand in dieses Haus ließe, würde er als Erstes sehen wollen, wie es dir geht.«
    »Hab ihn lieb, Kathi«, sagte Jo, hielt sich an Katharina fest und weinte. »Er hat’s verdient. Hab ihn lieb.«
    In dieser Nacht fand Katharina keinen Schlaf. Sie wollte zu Benito gehen und ihm sagen, dass sie seine Hilfe brauchte. Im nächsten Atemzug aber fiel ihr ein, dass er um seinen Bruder trauerte – vielleicht wurde ihr in dieser Nacht erst klar, wie sehr.
    Während sie im Dunkeln wach lag, sah sie die Kinder vor sich, die die beiden gewesen sein mussten. Weshalb hatte Benitos Mutter ihre Söhne zu Fremden gegeben, die sie im Stall schlafen ließen, ihren Stolz verletzten und sie mit Lederriemen prügelten, wenn sie die viel zu schwere Arbeit nicht schafften? War es das, was Armut bedeutete? Aber ihre Familie war jetzt auch arm, und dennoch schliefen sie in ihren eigenen Betten, hatten ihre Kinder bei sich, und niemand misshandelte sie.
    Sie hatte immer geglaubt, Benito hätte sie zum Trost gehabt, aber in Wahrheit hatten Benito und Miguel nur einander gehabt. Wenn er mit Striemen auf dem Rücken im Stroh lag, schlief ich in meinem Bett. Wenn er sich einsam fühlte und vor Angst nicht schlafen konnte, war Miguel bei ihm, nicht ich. Ich kam erst am Morgen, ein tapsiges Kind, das ihn mit Kinderproblemen überhäufte. Es ist kein Wunder, dass Miguel spuckt, wenn er mich sieht. Aber Miguel spuckt nicht mehr. Miguel ist tot.
    Katharina stieß das Moskitonetz beiseite und riss den Fensterladen auf. In Veracruz war der Morgen meist diesig, doch heute erschien er ihr so klar wie ihr Entschluss. Benito war ein Mann, der sein Leben anpackte, kein Kind, das ihr Mitleid brauchte, und dennoch hatte er es verdient, dass sie seiner Trauer Raum ließ. Sie wollte ihn um Hilfe bitten, aber sie wollte ihm auch zeigen: Ich bin für dich da, so wie du für mich. Und dein Schmerz tut mir weh.
    Die Lösung war einfach, wie bei den meisten Dingen, die man erst einmal durchblickte: Es war der 2 . November. Der Dia de los Muertos. Benito hatte ihr von der Mole Poblano erzählt, die sein Bruder liebte wie Jette Heißwecken, und sie wusste, wo Händler diese Mole verkauften. Sie würde zum Haus seiner Mutter gehen und sagen: »Ich bin Katharina, ich habe Miguel gekannt und bringe etwas, um es ihm zu Ehren zu essen.« Über Jo würden sie sprechen, sobald sich die Gelegenheit ergab.
    Am liebsten wäre sie aufgebrochen, kaum dass sie sich in Eile angekleidet hatte. Aber auch darin wollte sie erwachsen sein. Er hatte sie beschworen, nicht allein durch die Stadt zu laufen, und hätte sie die Warnung nicht in den Wind geschlagen, so hätte Jo nicht das Kind eines Vergewaltigers im Bauch. Vor Fietes Haus vertrat sie Stefan den Weg. Es war Feiertag. Als er behauptete, er müsse zu den Temperleys, winkte sie ab.
    »Deine Temperleys sind Schwestern von La Llorona. Sie spuken. Für deine Lügerei bist du mir etwas schuldig, Stefan. Ich brauche Geld, um Mole Poblano zu kaufen, und ich will, dass du mich zu den Alvarez’ in die Vorstadt bringst. Danach geh zu deiner Georgia oder wohin es dir passt. Benito bringt mich nach Hause.«
    Stefan sträubte sich nicht. Wie sie besaß er kaum Geld, aber zusammen hatten sie genug, um sich auf dem Malecon einen Topf mit Mole füllen zu lassen. Am Stand gegenüber waren Zuckerschädel zu einer Pyramide gehäuft, es duftete nach Fisch und Salz und frisch gemahlenem Pfeffer, nach Zimt und Vanille und in Chili-Öl geröstetem Fleisch. »Kauf mir für Luise und Jette zwei von diesen Schädeln«, sagte Katharina. »Es ist der Dia de los Muertos, und die beiden mochten Süßes fast so gern wie ich.«
    Stefan hüstelte. »Sind die

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