Im Land der gefiederten Schlange
ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, flohen nach Veracruz.
Es hatte eine Zeit gegeben, da war sie sicher gewesen, die Spirale der Gedanken und Bilder würde nie aufhören, bis sie dem Wahnsinn verfiel oder starb. Aber diese Zeit lag bald ihr halbes Leben lang zurück.
Sie war aus Veracruz fortgeschleppt worden, neun Tage lang, über zwei Bergketten und in das Hochtal vor den Zwillingsvulkanen wie ein gefesseltes Tier, davon überzeugt, dass es für sie kein Leben mehr gab. Wochenlang hatte sie in der Kammer, in die man sie gebracht hatte, gelegen, ohne sich darum zu scheren, wo sie sich befand. Sie hatte sich gewünscht zu verhungern, aber ihre starke Natur zwang sie, Nahrung zu sich zu nehmen. Sie hatte von ihnen allen nichts hören wollen, hatte jeden, der sie zu trösten versuchte, in Grund und Boden geschrien. Was man ihr angetan hatte, war zu gewaltig für Trost, ihre Wunde zu tief, um zu heilen. Und dann hatte eines Tages Stefan in der verdunkelten Kammer gestanden und gesagt: »Ich weiß, du brauchst niemanden mehr. Aber hier ist jemand, der dich braucht, Kathi.«
Felice. Keine sechs Pfund auf der Handelswaage und nicht einmal so lang wie ihr Arm. Ein federleichtes Bündel, das um sein Leben brüllte und damit Katharina ins Leben zurückrief. Sie hatte sich aufgesetzt und hielt im nächsten Moment den Säugling im Arm. »Sie hat Hunger«, hatte Stefan gegen das Gebrüll angeschrien. Und Katharina war aufgestanden, um in dem Haus, in dem sie seit Monaten lebte, die Küche zu suchen, damit das Geschöpf in ihrem Arm nicht verhungerte.
In dem Getöse, mit dem ihr Leben zerbrochen war, hatte sie Josephine vergessen. Was mit der Base los war, kam erst heraus, als es sich nicht mehr verbergen ließ. Über das weitere Vorgehen hatte der Familienrat entschieden. Katharinas Mutter hatte ihren Trauring vom Finger gezogen, ihn Jo angesteckt und das Mädchen zur Witwe von Sievert Hartmann erklärt, der bei der Bombardierung umgekommen war. Jo nahm alles hin. Bei der Geburt ihrer Tochter verblutete sie fast und lag für Wochen auf Leben und Tod, unfähig, für ihr Kind zu sorgen. Dass sie überlebt hatte, sei ein Wunder, erklärte der Arzt, und sie dürfe nie wieder ein Kind bekommen.
Ihren Namen hatte Jo ihrer Tochter allerdings gegeben. Sie hatte es Stefan gesagt, als die Wehen einsetzten. »Felice soll sie heißen, damit sie ein bisschen Glück im Leben hat.« Und so hieß sie. Felice Jette Luise. Das Geschöpf, mit dem das Leben ins Haus zurückgekehrt war.
Es besaß keine Giebel, sondern war ein im spanischen Stil gebautes Patiohaus, das sie sich bei ihrer Ankunft hatten teilen müssen. Claudius von Schweinitz hatte den Männern der Familie einen Kredit gewährt, mit dessen Hilfe sie sich mühsam, aber stetig eine neue Existenz aufbauten. Statt des Handels mit Importwaren, der die Verbindung in die Heimat hielt, ein Geschäft mit in der Stadt hergestellten Hüten und Textilien. Jahr für Jahr war das Haus um einen Anbau gewachsen, und inzwischen glich es mit seinen Flügeln und Türmen so sehr einer niedrigen Burg, dass sie es auf diesen Namen getauft hatten – die Hartmann-Burg. Katharina und Stefan nannten es im Scherz auch
Besser-als-nichts,
denn so war es in den Anfangsjahren am häufigsten beschrieben worden. »Sind wir froh, dass wir es haben – es ist besser als nichts.«
Sie versuchte sich auf ihre Notizen zu konzentrieren, gab aber bald auf und lauschte auf Geräusche, die die stille Nacht durchdrangen – Räderrollen vom Hof her, das Schnalzen einer Peitsche und der Hufschlag eines Pferds. Stefans Besucher hatte gesagt, er müsse früh weiterreisen, aber doch wohl nicht noch in der Nacht? Gleich darauf vernahm sie Schritte, die im Gang hallten, und dann ein Klopfen an der Tür. »Herein!«, rief sie leise. Offenbar war sie nicht die Einzige, die in dieser Nacht keinen Schlaf fand.
Statt die Tür zu öffnen, sagte jemand: »Ich bin es.« Nicht Jo oder Felice, sondern Stefan. Offenbar zögerte er, weil sein nächtlicher Besuch nicht eben sittenkonform war.
»Nun komm schon«, rief Katharina. »Ich habe ohnehin ein Hühnchen mit dir zu rupfen.«
»Und warum das?« Er schob vorsichtig die Tür auf und steckte den Kopf herein.
»Weil du keine solchen Weihnachtsgeschenke machen darfst«, erwiderte sie und hielt das teure Schreibgerät in die Höhe. »Nicht einmal deiner Lieblingsbase. Du bist schließlich kein Krösus.« Stefan arbeitete wie alle Männer im Geschäft der Familie und erledigte
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