Im Land der gefiederten Schlange
bleiben. Gewiss, sie wurde bezahlt, um die Mädchen in einem Zimmer des Deutschen Hauses die Grammatik der deutschen Sprache und die Geschichte der Hanse zu lehren, aber sie erzählte ihnen auch von König Moctezuma und dem Eroberer Cortez, von den Heldentaten des Paters Hidalgo und von der tapferen Johanna Ortiz, die in ihr Zimmer eingesperrt war und sich furchtlos entschloss, sieben mexikanischen Freiheitskämpfern eine lebensrettende Botschaft durch die Tür zu flüstern. Einmal hatte die schnippische Hanne sie gefragt, woher sie solche Geschichten kenne und weshalb sie zu ihnen davon spreche.
»Ein Freund hat sie mir erzählt«, hatte Katharina erwidert. »Es ist kein gutes Gefühl, in dem Land, in dem man lebt, ein Fremder zu sein. Wir haben dieses Gefühl nie überwunden, aber ihr seid eine neue Generation. Neue Generationen müssen es immer besser machen als die alten.«
Würde sie ihrer Handvoll Mädchen dabei helfen können? Mit diesem Wunsch hatte sie vor bald zehn Jahren ihre Stellung als Lehrerin im Deutschen Haus angetreten. Micaela von Schweinitz hatte sie auf die Idee gebracht. »Wenn Sie wollen, dass Ihren Kindern der deutsche Geist erhalten bleibt, müssen Sie Mädchen wie Knaben unterrichten. Oder wollen Sie, dass Ihre Söhne Frauen heiraten, die nicht wissen, wo Hamburg überhaupt liegt?« Wie so oft hatte in der Stimme der Baronin eine Spur von Spott geschwungen, aber sie war sofort bereit gewesen, für die Einrichtung eines Klassenzimmers und die Ausstattung einer Bibliothek zu sorgen, und ihre Tochter gehörte zu Katharinas ersten Schülerinnen.
Ob beabsichtigt oder nicht, hatte Micaela ihr damit ein neues Leben geschenkt. Natürlich war ihre kleine Einrichtung nur ein Anfang, aber immerhin sorgten sie dafür, dass alle deutschen Kinder, unabhängig von Geschlecht und Besitzstand, über das zwölfte Lebensjahr hinaus unterrichtet wurden. Präsident Juárez wollte Schulen für alle Kinder Mexikos begründen, aber wie so viele Reformen, die nottaten, scheiterte auch diese am Geld.
Und wegen des verfluchten Geldes waren jetzt wiederum fremde Truppen in das Land marschiert, das sich verzweifelt nach Frieden sehnte. Jahrzehnte der Unruhen und Kämpfe hatten Mexiko so hoch verschuldet zurückgelassen, dass der größte Teil der Einfuhrzölle an ausländische Gläubiger verpfändet war. Die Enteignung der Kirche, die den Klerus gegen die Regierung aufbrachte, trug nicht einmal ein, was für Tagesgeschäfte benötigt wurde, geschweige denn zusätzliche Summen für Schulen und Straßenbau, für die Bodenreform und die Krankenversorgung.
Präsident Juárez hatte bereits in den Jahren des Bürgerkriegs, die ihm Gefangenschaft, Exil und Not bescherten, bewiesen, dass er ein Mann von außerordentlicher Entschlusskraft war. Im Mai hatte er kurzerhand erklärt, Mexikos Schuldrückzahlungen ans Ausland würden für zwei Jahre ausgesetzt, damit das Land sich auf die Füße kämpfen konnte. Ein vernünftiger Entschluss, fand Katharina. Ein Verbrechen, fand ihr Vetter Hermann, der Juárez’ Namen nicht aussprach, ohne zu fluchen. »Was geht es uns an?«, sagte Helene wie früher Katharinas Mutter und verbot Stefans Besucher, den Weihnachtsabend mit Reden über mexikanische Politik zu stören. »Wir sind froh, dass man uns endlich Frieden gönnt, und zudem verschrecken Sie meine Kinder.«
Helenes Kinder, die elfjährige Hanne und die neunjährige Grete, waren alles andere als schreckhaft, aber Stefans Besucher war ein höflicher Mann und ließ das Thema fallen. Das Denken jedoch konnte Helene ihnen nicht verbieten, und Katharinas Gedanken kreisten immer noch. Deshalb hatte sie von Veracruz geträumt – weil sie nicht aufhören konnte an Schiffe zu denken, die vor dem Hafen den Weg aufs Meer abschnitten, an Schiffe, die mit Geschützen ausgestattet und mit Tausenden von Soldaten bemannt waren. Würden sie tun, was der Präsident ihnen angeboten hatte, ins Landesinnere ziehen und über eine Lösung verhandeln, oder wahr machen, was ihre Regierungen androhten? Mit Waffengewalt die Begleichung der Schulden erzwingen?
Werden sie diesmal Veracruz verschonen?
Seufzend nahm Katharina ihr Weihnachtsgeschenk aus der Schachtel und zog es auf. Es war ein prächtiger Füllfederhalter, für den Stefan ein Vermögen ausgegeben haben musste. Langsam führte sie die Spitze über das Papier und sah zu, wie die schimmernde Tinte Buchstaben formte. Sie wollte sich für den Unterricht nach den Feiertagen Notizen machen, aber
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