Im Land der gefiederten Schlange
Die Mutter saß im Korbstuhl und schaukelte vor sich hin, die Übrigen saßen auf dem Boden. Carlos hielt Carmen im Arm, Xavier hielt Xochitl im Arm, und um Benito drängten sich die Kinder, Miguel, Xochitls Zwillinge Enrique und Donata und Inez’ Tochter Angela. Sie saßen lange beieinander, tranken zu viel und zupften auf Xaviers Gitarre, weil es nichts Rechtes zu reden gab in solchen Nächten, weil jedes Wort zentnerschwer klang und jeder Witz gewollt und lahm.
Benito brach vor dem Morgengrauen auf, um sich den Abschied zu ersparen. Er hatte Carmen noch einmal eingeschärft, niemanden ins Haus aufzunehmen, niemandem zu trauen und zu politischen Fragen zu schweigen. Nicht nur die Franzosen ahndeten Widerstand mit der Peitsche oder dem Galgen, auch Juárez hatte ein Dekret erlassen, nach dem jeder Mexikaner, der mit den Franzosen kollaborierte, des Todes war. Am besten, man hielt sich für sich, um nicht zwischen die Fronten zu geraten. Damit war alles gesagt. Todmüde und mit bleischweren Gliedern führte er Cuatl den Hang hinauf. Einen Moment lang war der Wunsch übermächtig, sich umzudrehen und zurück in die Senke zu blicken, auf das blühende Tal und das Haus, in dem seine Familie lebte. Einen Moment lang war er versucht zu schreien: Ich kann das nicht. Ich bin zu schwach und habe Angst. Dann aber fasste er sich und stieg weiter. Als er den Kamm erreichte, ging die Sonne auf.
Der Saal lag im weichen, beinahe rosigen Licht der Öllampen, und die süße Musik tat ein Übriges, um eine märchenhafte Atmosphäre zu zaubern. Die Roben der Damen in den Logen liefen denen der Sängerinnen auf der Bühne den Rang ab. Valentin gelang es kaum, seine Füße still zu halten. Am liebsten wäre er unter einem Vorwand aus dem Teatro Communale geflohen. Ohnehin machte er sich nichts aus Opern und kam nur seiner Begleiterin zuliebe her. In diesen Junitagen aber, in denen stündlich mit bahnbrechenden Nachrichten gerechnet werden konnte, fiel ihm das Ausharren in weltfremden Traumsphären doppelt schwer.
Zudem missfiel ihm die Geschichte, die auf der Bühne, untermalt von schmelzenden Geigenklängen, dargeboten wurde. Es war Bellinis
La Straniera – die Fremde,
und schon der Titel erregte seinen Unwillen. Die Handlung war geradezu hanebüchen. Irgendein Dummkopf, der das Glück hatte, als Graf geboren zu sein, war mit einem standesgemäßen, wenngleich pummeligen Mädchen verlobt und warf alles hin, um einer verschleierten Fremden zu verfallen, deren Herkunft ein Geheimnis umgab. Für die namenlose Fremde stürzten die Akteure einander von Klippen, duellierten sich, und zu guter Letzt ergriff der dem Wahnsinn anheimgefallene Graf sein Schwert und entleibte sich. Tief atmete Valentin auf, als sich der Vorhang über der blutbefleckten Bühne senkte.
»War es nicht allerliebst?« Noch während sie frenetisch applaudierte, wandte seine Begleiterin ihm ihr niedliches Gesicht zu. »Wie er so alles dahingab, der ärmste Graf Arturo – für eine Fremde, die ihm nicht einmal ihre Abkunft verriet.«
»Und die zum Schluss einem anderen Mann gehörte«, fügte Valentin trocken hinzu, räusperte sich aber und bestätigte, dass die Aufführung grandios gewesen sei. Ein Mädchen wie Ildiko Szomory führte man nun einmal in die Oper, und der Lohn war den Aufwand wert. Die nussbraun gelockte Ildiko war nicht nur bezaubernd, sondern hatte einen Onkel im Generalstab. Ihr Bruder gehörte zu einer Delegation von Husaren-Offizieren, die in Triest an Übungsmanövern mit der Marine teilnahmen. Im Angesicht der Bedrohung, die von der nationalen italienischen Bewegung ausging, erschienen solche Maßnahmen notwendig.
Diese nationale Bewegung gehörte zu den Dingen, die sich Valentins Verständnis entzogen. Wäre er Venetier, Lombarde oder Piemontese gewesen, hätte er sich nichts anderes gewünscht, als unter den Fittichen des Hauses Habsburg zu leben – so wie das Kleine zum Großen strebte, wie es alle Geschöpfe zur Sonne zog. Überall auf der Welt gab es Völker, die nach der Herrschaft der Habsburger geradezu schrien. Polen wie Griechen boten Max ihre Königskrone an. Dass der Erzherzog zögerte, sie zu ergreifen, hatte triftige Gründe: Max war zum Kaiser, nicht zum König geboren. Der hochbegabte Mann brauchte mehr als eine Krone – eine gewaltige Aufgabe, ein Land ohne Frieden, Wohlstand und Kultur, dem er diese Segnungen schenken würde. Valentin hatte den Erzherzog bewundert, solange er denken konnte. Was er aber in seiner
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