Im Land der gefiederten Schlange
Carlos.
»Diesmal nicht«, erwiderte Benito. »Ich will die paar Stunden, die mir bleiben, mit euch verbringen.«
»Und von dem Geld willst du nichts für dich behalten?«
»Wenn ich es euch gebe, behalte ich es für mich«, sagte er.
Carlos legte ihm die Hand auf die Schulter. »Hast du noch Zeit? Kann ich dir etwas sagen?«
»Von mir aus kannst du mir den gesamten
Boturini Codex
aufsagen. So wichtig werde ich kaum sein, dass ich die Zeit dazu nicht habe.«
»Vermutlich glaubst du, ich müsse dich hassen«, sagte Carlos.
»Ja«, erwiderte Benito ehrlich. »Ich an deiner Stelle täte es.«
Carlos’ Lächeln geriet zur schmerzverzerrten Grimasse, und gleich darauf musste er husten. Benito goss ihm Sud vom weißen Eisenkraut, den seine Mutter gegen ihren Husten trank, in einen Becher, auch wenn sie beide wussten, dass gegen Carlos’ Husten kein Kraut mehr gewachsen war. »Ich liebe dich«, krächzte Carlos, sobald er zu Atem gekommen war. »Ich glaube, ich habe die Liebe und Bewunderung, die dein Bruder für dich hatte, von ihm geerbt.«
Benito, der so sehr daran gewöhnt war, sich vor ihnen allen zusammenzureißen, fühlte sich jäh von Furcht übermannt. Ehe Carlos weitersprechen konnte, presste er ihm die Hand auf den Mund. »Ja, das hast du«, fuhr er ihn an, »und das bleibt auf dir sitzen. Ich habe einen Bruder verloren, ich verliere nicht noch den zweiten. Nein, ich werde dir nicht erlauben, mir zu sagen, dass du es nicht mehr lange machst und dass ich nach deinem Tod deine Frau und deinen Sohn zu mir nehmen soll, weil Carmen ohnehin immer mich geliebt hat und weil Miguel mich und nicht dich zu seinem Helden macht. Das ist dummes Zeug. Wenn dein Sohn nicht weiß, was für einen Mordskerl er zum Vater hat, bekommt er Prügel von mir, bis er sein Hirn benutzt. Und deine Frau liebt dich so sehr, wie eine Frau ihren Mann nur lieben kann, egal, ob sie als Kind mit mir geübt hat, wie man küsst. Du hast die Pflicht, für die beiden zu leben, hörst du? Sie brauchen dich, nicht mich. Es heißt, Neid müsse man sich verdienen, Carlos, und wenn es einen Mann auf der Welt gibt, den ich beneide, dann dich.« Außer Atem ließ er den anderen los und erschrak, als er den rötlichen Handabdruck um Carlos’ Lippen sah. »Verzeih mir«, murmelte er und senkte den Kopf. »Ich habe mich vergessen.«
»Schon gut, kleiner Bruder«, murmelte Carlos und klopfte ihm die Schulter. »Ist schon gut. Ich habe mich auf dich gestürzt wie ein Kojote, weil ich dachte, bei dir muss ich endlich nicht mehr tapfer sein. Wir sollten gelegentlich daran denken, dass du das auch nicht kannst – immerzu tapfer sein.«
Benito blickte auf und grinste. »Wir sind gerade beide nicht sehr tapfer, Carlos.«
»Nein«, stimmte Carlos zu und erwiderte das Grinsen. »Gerade sind wir beide zwei ausgesprochene Waschweiber.«
Sie tauschten einen Blick, dann zog Benito die Handschuhe, die er regelmäßig mit Fett einrieb, aus dem Gurt und legte sie vor Carlos aufs Bett.
»Für Miguel?«
Benito nickte.
Von der vorderen Veranda rief Carmen sie zum Essen. Benito und Carlos ließen sich noch ein paar Augenblicke Zeit und versprachen einander zum einen, nicht zu sterben, und zum anderen, einander zu verzeihen, wenn sie das erste Versprechen nicht halten würden. Zuletzt bat Carlos ihn wie jedes Mal, seine Base nicht im Stich zu lassen, so unsäglich diese sich auch betrug. »Wo ist sie denn?«, fragte Benito, der froh gewesen war, dass ihm Inez bisher nicht über den Weg gelaufen war, dass sie sich nicht an seinen Arm gehängt und ihn angefleht hatte, sie mit in die Hauptstadt zu nehmen.
Mühsam zuckte Carlos mit einer Schulter. »Manchmal geht sie nach oben und spricht mit der Grauen am Berg, aber meistens nimmt sie den Eselskarren und fährt nach Santiago. Du weißt, sie hält das Leben hier nicht so gut aus.«
Nein, Inez war für das Leben auf dem Land nicht gemacht, aber vor allem hielt sie wohl die Liebe der beiden Paare nicht aus, die ihr vor Augen hielt, was sie nicht besaß. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er zu Carlos. »Ich habe Inez von Miguel geerbt, so wie du mich. Ich lasse sie nicht im Stich.« Tatsächlich hätte kein Mensch das arme Wrack von einer Frau im Stich gelassen, auch wenn Benito nicht wohl dabei war, dass sie sich bei der Grauen am Berg herumtrieb.
Xochitl kam und schimpfte sie aus, weil das Essen kalt wurde, Benito hob Carlos aus dem Bett und trug ihn vors Haus, wo der Rest der Familie sich um die Barbacoa scharte.
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