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Im Land der gefiederten Schlange

Im Land der gefiederten Schlange

Titel: Im Land der gefiederten Schlange Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: carmen lobato
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Gläser wieder voll. Dann sagte Felix: »Das Schlimmste ist gar nicht, dass du jetzt einen Onkel zum Vater und einen Vater zum Onkel hast, nicht wahr? Wir haben uns zwar eine Ewigkeit nicht gesehen, aber die Kathi, die ich kannte, wäre in dem Fall wutschnaubend losgeprescht und hätte diesen Geheimniskrämern die Hölle heißgemacht.«
    »Nein«, antwortete sie tonlos. »Du hast recht, das Schlimmste ist es nicht.«
    »Das Schlimmste ist, dass du es nicht glauben kannst«, hielt Martina fest. »Und dass du jetzt noch immer nicht weißt, wen dein Vater ermordet hat, warum deine Tante in Ohnmacht fällt und warum man dich dreißig Jahre lang belogen hat.«
    Katharina nickte, stellte ihr Glas beiseite und stand auf. »Ich wünschte, ich hätte es so gemacht wie du«, sagte sie zu Felix. »Wäre davongelaufen, hätte alles hinter mir gelassen und mein Leben geführt.«
    »Das sagt sich leicht«, erwiderte Felix. »Aber es zu tun, ist hart. Wäre ich allein gewesen, ohne Martinas Familie im Rücken, hätte ich es nicht geschafft.«
    Ich war auch nicht allein, dachte sie, aber sie sprach es nicht aus. Die Tränen, die sich seit ihrer Flucht aus der Burg gestaut hatten, brachen sich Bahn und raubten ihr die Stimme. Wie vorhin Christoph zuckte sie mit den Schultern, bat Felix und Martina mit einer Handbewegung, sitzen zu bleiben, und verließ nach einem letzten Blick auf das Wandbild den Raum.
    Sie ging nicht in ihr Zimmer, sondern aufs Dach, wo der nächtliche Sturm tobte. An der Brüstung stand sie, hielt das Gesicht in den
Regen, den der Wind trägt,
und hörte zu, wie sich ihr Weinen mit dem Singen des Sturms mischte.

36
    Die silbern glänzenden Eisenstränge, die sich wie Ottern durch die Schneise im Wald von La Pulga schlängelten, deckten lediglich die kurze Strecke von Veracruz nach Orizaba ab, doch eines Tages würden sie sich bis nach Mexiko-Stadt und darüber hinaus in alle Teile des Landes erstrecken. Dann würde Mexikos Transportproblem auf immer gelöst sein, Rohstoffe und Fertigprodukte würden auf schnellstem Weg von einem Ende zum anderen gelangen, und die Menschen, die sie förderten und herstellten, würden von ihrer Arbeit leben können.
    Etwas in Benito sträubte sich dagegen, diesem Wunderwerk des Fortschritts Gewalt anzutun. Aber solche Gefühlsduseleien waren fehl am Platz. Bazaine, der französische General, der Dörfer niederbrennen ließ, um Exempel zu statuieren, benutzte die Eisenbahn nicht zur Verschickung segensreicher Güter, sondern zum Truppentransport.
    Benitos Begeisterung für den Schienenbau kam ihm bei seinem Plan zu Hilfe. Mehrmals war er seinerzeit nach Veracruz gereist, um bei den Arbeiten zuzusehen, und hatte dabei gelernt, warum das tropische Klima der Gegend ein Risiko darstellte. Kam es durch zu große Hitze zu einer Verwerfung der Gleise, würde ein Zug in Fahrt aus der Bahn geschleudert und unkontrollierbar werden. Wenn während der Regenzeit das Erdreich ins Rutschen geriet und einen Streckenabschnitt verschüttete, bestand dieselbe Gefahr. Dieses Wissen würde er ausnutzen. Die Waldschneise zwischen zwei steilen Hängen eignete sich bestens dazu. Die Schwärze der Nacht gab ihm Zeit, eine Reihe der hölzernen Schwellen, über die die Schienen verlegt waren, zu entfernen, den Verlauf zu untergraben und Erde auf die Gleise zu häufen, flach genug, so dass das Hindernis erst sichtbar wurde, wenn es zu spät war.
    Er hatte nur drei Männer mitgenommen. Sie arbeiteten schweigend, ohne Licht, trieben mit Hämmern und Hacken die schweren Schwellen aus dem Grund. Es war Arbeit, die sich gut anfühlte – schweißtreibend, erschöpfend wie damals in Santa María de Cleofás, als sie die Grube für das Haus ausgehoben hatten. Und doch tust du nichts anderes als einer, der Galgen zimmert, um Menschen daran aufzuknüpfen. Als ihm übel wurde und er ins Dickicht des Hangs flüchten musste, hasste er sich. Er war froh, dass keiner seiner Männer ihm folgte – wenn einer austreten ging, schloss sich für gewöhnlich die halbe Einheit an.
    Der Zug würde nicht schneller als zwanzig Meilen pro Stunde fahren, die Waggons würden nur langsam stürzen, und es war unwahrscheinlich, dass dabei ein Soldat zu Tode kam. Wen hältst du damit zum Narren?, fuhr er sich an. Wozu schleichst du bei Nacht und Nebel um die Gleise, wenn nicht, um zu töten? Wer bei der Entgleisung nicht stirbt, den empfangen deine Leute mit ihren Hinterladern. Sein Magen wand sich in schmerzhaften Krämpfen. Erst als er

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