Im Land der gefiederten Schlange
zusahen, wie die Besatzungsarmee aus ihrer Stadt zog. Sie jubelten nicht und riefen keine Beschimpfungen, sondern standen samt ihrer Kinder still da. Vielleicht waren sie zu erschöpft, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Vielleicht waren sie zu erschöpft und zu ungläubig, um überhaupt etwas zu fühlen. Dicht an die Mauer des Hauses gepresst stand Juliane, mit der uralten Hille auf dem Rücken. »Die Alte will das sehen«, hatte Hermann gesagt und seine Frau hinausgeschickt.
Christoph wandte sich ab und schloss das Fenster. Die Scheibe war neu – irgendwer hatte wohl einen Glaser bezahlt. Inga stellte ein hölzernes Schiffchen, das einem ihrer Jungen gehört haben musste, zu den Sachen in den Korb. »Was machst du?«, fragte Christoph.
»Sieht man das nicht? Ich packe einen Korb mit Geschenken.«
»Weihnachten ist doch schon sechs Wochen her«, versuchte er einen hilflosen Scherz.
»Soweit ich weiß, beschenken wir an Weihnachten niemanden mehr«, erwiderte Inga und bedeckte den Korb mit einem Tuch. »Warum wir es überhaupt noch begehen, ist mir ein Rätsel.«
Um nicht aufzugeben, hätte er antworten können. Um eine Familie zu bleiben, als kämen die Verlorenen zurück, als würden irgendwann neue Kinder geboren. »Für wen ist der Korb?«, fragte er.
Inga drehte sich nicht zu ihm um, auch wenn sie an dem Korb nichts mehr zu tun hatte. »Dörte und ich machen einen Besuch bei unseren Enkeln. Der Baron und die Baronin nehmen sie mit auf ihr Landgut, damit sie in Sicherheit sind, falls es hier zu Kämpfen kommt. Wir wollen ihnen gute Reise wünschen. Stefan fährt uns, Dörte schafft es nicht, so weit zu laufen.«
Um ein Haar hätte er gefragt: Was für Enkel? »Stefan kann doch nicht fahren«, platzte er stattdessen dümmlich heraus.
»Er muss es gelernt haben«, erwiderte Inga gleichmütig. »Felix hat ihm einen Wagen geliehen.«
War es nicht verboten, Felix’ Namen zu nennen? Erst jetzt wurde ihm bewusst, was seine Frau gesagt hatte. Er ging zu ihr und legte den Arm um sie. »Liebes, das könnt ihr nicht tun. Ich verstehe, was in euch vorgeht, aber es ist wirklich nicht möglich.«
»Und weshalb nicht?« Sie befreite sich. »Bist du etwa nicht zu Martina von Schweinitz gegangen, um Kathi zu sehen? Verkehrt ihr mit dem Baron nicht ständig und nehmt sein Geld?«
»Aber das ist doch etwas anderes!«
»Warum? Weil die heilige Familie es absegnet? Spar dir die Mühe, Christoph. Säusle mir nichts ins Ohr, frag nicht deine Schwester, was du tun sollst, und droh mir auch nicht an, dass du den Hermann holst. Das alles nützt nichts. Gehen werden wir trotzdem, und am besten macht ihr kein Drama daraus. Wir verbünden uns nicht mit dem Teufel, wir sind nur zwei alte Frauen, die ihren Enkeln ein paar Kekse bringen. Dafür wird uns der Hermann wohl kaum auf die Straße setzen.«
»Ich verstehe dich ja«, beteuerte Christoph noch einmal. »Ich würde selbst gern gehen. Felice fehlt mir. Ich wünschte, ich hätte ihr, solange sie hier war, mehr Zeit gewidmet.«
»Mehr Zeit, Christoph? Wie hättest du das denn tun sollen? Was immer du an Zeit und Kraft hattest, hat deinen Schwestern gehört, und das bleibt auch so, wenn deine Schwestern und ihre Kathi es nicht mehr brauchen. Wo sollst du schließlich nach all den Jahren damit hin?«
»Ich könnte sie dir geben«, erwiderte er. »Dir und den Kindern.«
Inga lachte. »Besten Dank, Christoph. Ist es dafür nicht ein bisschen spät? Die Kinder sind erwachsen, allen dreien ist ihr Leben missglückt. Vielleicht hätten sie dich manchmal gern um Rat gefragt, doch du warst ja in Gedanken nie bei uns. Nicht in unserer Hochzeitsnacht, als du mich allein im Hotel gelassen hast. Nicht nach Josephines Schändung, als wichtiger war, dass Kathi sich mit dem falschen Mann herumtrieb. Nicht, als wir herkamen und die Jungen immer mehr außer Kontrolle gerieten. Da musstest du dich wiederum um Kathi sorgen, und als Felice zur Welt kam, hattest du auch keine Zeit, denn die war ja nur Jos, nicht Kathis Kind.«
»Ich habe die Schuld nicht ertragen«, murmelte Christoph tonlos. »Felice, meine ich. Hätte ich auf Josephine aufgepasst, wäre sie nicht von einem Schänder schwanger geworden. Ich konnte das arme kleine Mädchen nie ansehen, ohne daran zu denken.«
»So geht es euch Hartmanns euer Leben lang, nicht wahr? Ihr könnt niemanden ansehen, ohne euch zu fragen, was gewesen wäre und was ihr hättet tun sollen.« Inga wandte sich ihm zu. Er fand sie immer noch
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