Im Land der Mond-Orchidee
altem Gerümpel, das in der Hitze einen
beiÃenden Geruch ausströmte. Einige Dachziegel fehlten, und durch die Lücken
brannte die tropische Mittagssonne mit aller Kraft. Unten in den schattigen
Zimmern wäre besser schlafen gewesen, aber Neele fühlte sich sicherer, wenn sie
hier oben blieb. Sie fand einen Platz hinter einer Seekiste, wo ein Stapel
zerlumpter Pferdedecken lag. Aus denen machte sie sich ein primitives Bett. Sie
hatte sich kaum niedergelegt, als sie auch schon einschlief.
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S ie hatte lange
geschlafen, denn als sie erwachte, breitete sich bereits die Abenddämmerung
über das Land. Noch immer empfand sie kaum Hunger, aber quälenden Durst, sodass
sie sich auf die Suche nach dem Hausbrunnen machte. Nur flüchtig ging ihr durch
den Kopf, dass er vergiftet sein mochte. Ihre seltsame Furchtlosigkeit gewann
die Oberhand über die Erinnerung an Dr. Anderliesâ warnende Worte über typhusverseuchte
Brunnen. Sie stieg die beiden steilen Treppen hinunter, durchquerte den unteren
Flur und fand den Brunnen unmittelbar hinter der Gartentür. Und sie fand noch
mehr: Auf der unkrautüberwucherten Schwelle der Gartentür lagen, säuberlich in Bananenblätter
verpackt, mehrere frisch gebackene Brote, ein halbes Dutzend geräucherte
Fische, ein Glas mit Fruchtgelee zum Würzen und ein Korb voll ebenfalls
ofenfrischer Reiskuchen.
Der Duft dieser Leckerbissen war so überwältigend, dass ihr
unterdrückter Hunger mit einem Schlag zurückkehrte. Hastig entwendete sie eines
der Brote, einen Fisch und zwei Reiskuchen. Dann pumpte sie Wasser aus dem
Brunnen, trank reichlich und flüchtete mit ihrer Beute zurück auf den
Dachboden, wo sie Brot und Fisch gierig in sich hineinschlang. Erst beim Essen
wurde ihr klar, dass etwas Merkwürdiges in dem stillen Haus vorgehen musste.
Die Lebensmittel waren nicht für sie bestimmt gewesen, das verriet schon allein
die Menge â und wer sollte auÃerdem von ihrer Anwesenheit wissen? Aber wem war
die Versorgung dann zugedacht gewesen? Wer suchte ein so abseits gelegenes und
übel beleumundetes Haus auf? Sie begriff jetzt, dass der innere Drang, der sie
geleitet hatte, richtig gewesen war. Es war bereits zu spät für sie, um noch
ihren Weg durch die aufkommende Dunkelheit fortzusetzen, aber es würde in
dieser Nacht einen Grund geben, sich verborgen zu halten.
Auf den Pferdedecken ausgestreckt, lag sie da, hielt Ameyas Kris mit
beiden Händen fest auf die Brust gepresst, Waffe und schützendes Amulett
zugleich, und starrte durch die Lücken zwischen den Dachziegeln hinauf in den
rasch dunkelnden Himmel. Aus dem Grau wurde Schwarz. Die groÃen, feurig
glänzenden tropischen Sterne erschienen. Im Haus und seiner Umgebung herrschte
tiefe Stille, nur unterbrochen vom Rascheln der verwilderten Büsche, wenn ein
Windstoà hindurchfuhr.
Wer immer sich der Vordertür genähert hatte, musste sich leise wie
ein Raubtier bewegt haben, denn erst das Knarren der Angeln verriet, dass
jemand das Haus betreten hatte. Neele hörte den scharfen, mechanischen Laut
ganz deutlich aus all den anderen nächtlichen Geräuschen heraus. Dann kehrte
wieder Stille ein, denn die Person â oder waren es mehrere? â, die das Haus
betreten hatte, bewegte sich jetzt im Inneren, und die beiden dazwischenliegenden
Zimmerdecken erstickten alle Geräusche. Es dauert jedoch nicht lange, bis
Stimmen laut wurden. Anscheinend hatten die heimlichen Besucher das Gebäude
einer raschen und lautlosen Ãberprüfung unterzogen und alles so vorgefunden,
wie sie es erwarteten, denn jetzt sprachen sie in normaler Lautstärke miteinander.
Die Sprache schien Sundanesisch zu sein, aber Neele hätte sie auch nicht
verstanden, hätten sie Deutsch gesprochen. Die Sätze drangen nur als ein
unbestimmtes Summen bis zum Dachboden hinauf.
Einmal hörte sie durch die Lücken im Dach ganz deutlich, wie im
Hintergarten der Brunnenschwengel betätigt und ein Gefäà gefüllt wurde, dann
klappte die Tür, und wieder war nur ein Summen zu vernehmen. Sie überlegte, wie
viele Personen es sein mochten. Wahrscheinlich sechs, denn so viele Fische und
etwa die doppelte Menge an Broten und Reiskuchen waren auf die Hintertreppe
gelegt worden. Schritte waren keine zu hören, also gingen sie vermutlich
barfuÃ. Einheimische. Waren es Räuber, die sich da heimlich in tiefer Nacht
trafen? Oder ein Trupp jener
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