Im Land der Mond-Orchidee
die Hand
daraufpresste, überzeugt, es würde jeden Augenblick aussetzen. Sie hörte weder
die Rufe der Passagiere, die sich an der Reling drängten und ihren Verwandten
und Freunden ein letztes Lebewohl zuwinkten, noch die scharfen Befehle der
Offiziere. Sie kümmerte sich weder um den beiÃenden Qualm, der jetzt, wo das
Schiff zusehends Fahrt aufnahm, übers Deck geweht wurde, noch um das deutlich
fühlbare Stampfen der Maschine unter ihren FüÃen. Nichts war ihr bewusst als
die Tatsache, dass ihr Ehemann, der ihr Treue bis in
den Tod versprochen hatte, sie abgelegt hatte wie einen abgetragenen Mantel.
Eiskalte Schauder durchliefen sie. Immer wieder blickte sie
verständnislos den Brief an, den der Zahlmeister ihr ausgehändigt hatte, als
sie voll Sorge nach dem verschwundenen Ehemann fragte.
Frieder war kein Mann der groÃen Worte, also war auch sein
Abschiedsbrief kurz gehalten:
Â
Neele, es war ein Fehler, Dich zu
heiraten, und mit einem Kind, das Du bekommst, wie Tante Käthe sagt, das würde
ich nicht schaffen. Musst eben schauen, wie Du zurechtkommst, und ich muss das
auch. Frieder Selmaker.
Â
Neele klammerte sich an die Reling, nahe daran, ohnmächtig
auf den Boden zu sinken. Die Schrift verschwamm ihr vor Augen, aber das
Gelesene hallte in ihrem Kopf wider. Was hatte er sich dabei gedacht? Wie
konnte er so etwas tun, sie einfach stehen lassen und verschwinden, einen
Atemzug bevor das Schiff ablegte? Hätte er auf dem Weg nach Bremerhaven gesagt,
dass er nicht fahren wollte, dann wäre sie bereitwillig umgekehrt ⦠aber
nein, das war es ja! Er wollte nicht mit ihr zurückfahren! Er wollte frei sein,
wollte irgendwo ein neues Leben anfangen, ganz gewiss nicht in Java und ganz gewiss
nicht mit ihr. Wie konnte ein Mann das tun, nachdem er mit steifer Miene und
ernster Stimme vor dem Pastor geschworen hatte, dass er immer und allezeit sein
Leben mit dem ihren verbinden würde?
Lennert und Paula, die ratlos neben ihr standen, versuchten von
Neuem, sie aus ihrer Erstarrung zu reiÃen. »Neeleken«, mahnte Paula, »komm
jetzt unter Deck. Der Regen wird immer dichter, du wirst ganz nass.«
»Entschuldige«, murmelte sie. »Es ist nur ⦠Ich meine,
ausgerechnet von Frieder hätte ich mir das nicht erwartet. Er war immer so â¦
so ⦠Was er sagte, darauf konnte man sich verlassen.«
»Komm«, drängte auch Lennert. »Du kannst hier nicht stehen bleiben.
Geh hinunter, und wir setzen uns zusammen und reden. Du hast ja noch uns.«
Sie wischte die Tränen ab. Ja, die Doktorsleute hatte sie noch.
Nicht auszudenken, wenn sie ganz allein gewesen wäre auf dieser albtraumhaften
Reise. »Danke«, flüsterte sie.
Paula ergriff ihren Arm und zog sie mit sich zu der Luke, durch die
eine hölzerne Hühnerleiter hinunterführte in den Bauch des Liners, wo sich die
Quartiere für die Reisenden dritter Klasse befanden. Ein trübes Halbdunkel
herrschte dort unten, und ein schwerer, ranziger Geruch nach Motoröl drang
herauf. Das Stampfen der Maschinen war deutlich zu spüren. Durch das Schlingern
des Schiffes kamen die drei Reisenden nur langsam voran. Vorsichtig an den
Handlauf geklammert, tappten sie hinunter in die mit Kisten und Kasten an
Ladung vollgestaute Höhle des Zwischendecks. Neele sah undeutlich riesige
Ballen, in Jute gepackt und mit Tauen umschnürt, hölzerne
Kisten und in käfigartigen Gittern übereinandergeschichtete Säcke. Lampen
baumelten da und dort zwischen der Ladung und warfen verwirrende Schatten. Unmittelbar
unterhalb dieses Zwischendecks, das so genannt wurde, weil es bei Bedarf entfernt
werden konnte, befanden sich ihre Kabinen. Die Meisje
Mariaan war eines jener fortschrittlichen Schiffe, die ihren Zwischendeckpassagieren
statt der früher üblichen riesigen Schlafsäle bereits Wohnkabinen anboten. Auch
in der dritten Klasse mit Stockbetten für zwei oder vier Personen reisten Männer
und Frauen streng getrennt, wie es die calvinistische Ethik der Reeder
verlangte, daher teilten Paula und Neele sich eine Kabine an einem Ende des
Zwischendecks, während Lennert und Frieder eine am anderen Ende, auf der
Männerseite, gemeinsam gehabt hätten. Jetzt würde Lennert allein reisen, oder
man würde ihm einen weiteren Passagier als Begleiter zuweisen, je nachdem, wie
es dem Quartiermeister gefiel.
Paula schob Neele zu einer der Kabinen, die an einem engen
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