Im Land der Mond-Orchidee
kroch sie auf allen vieren davon.
Neele war zutiefst erleichtert, obwohl ihr Gesicht von dem harten
Schlag brannte. Es würde sich rasch herumsprechen, dass sie an Typhus erkrankt
gewesen war, und niemand würde sich so schnell wieder in ihre Nähe wagen. Jetzt
war sie froh, dass die Krankheit eine solche Verwüstung in ihrem Gesicht und
Körper hinterlassen hatte, jeder konnte ihr ansehen, dass sie nicht nur bluffte.
Zufrieden schlief sie ein.
2
N eele hatte
gefürchtet, es würde Wochen dauern bis zur Gerichtsverhandlung, die über ihr
Schicksal entschied, aber schon am nächsten Vormittag wurde sie aufgerufen und
zu einem geschlossenen Wagen gebracht, den sie in Begleitung zweier Polizisten
bestieg. Sehen konnte sie nichts durch die beiden eng vergitterten Fensterchen,
aber sie erkannte erst den üblen Geruch der Kota wieder und dann die frischere
Luft, als der Wagen bergauf fuhr zum Waterlooplein.
Wohin man sie eigentlich brachte, wusste sie nicht, denn der Wagen
hielt erst in einem Innenhof. Neele wurde von ihren Begleitern eine breite
Marmortreppe hinaufgeführt und dann in einen Gerichtssaal, vor dem eine Menge
Beamter und Advokaten herumstanden. Ihr Fall erregte offenbar kein groÃes
Interesse â oder hatte man die Verhandlung mit Absicht so kurzfristig und so
früh am Morgen angesetzt, um zu verhindern, dass irgendjemand Neugierde zeigte?
In den halbrunden Holzbänken, die ein Amphitheater formten, saÃen nur einige
wenige Europäer, offensichtlich Beamte. Dann erschienen der Richter, seine
beiden Beisitzer sowie der öffentliche Ankläger und ein Mann, dem offenbar die
Rolle von Neeles Verteidiger zugefallen war, der sich aber nicht im Geringsten
um sie kümmerte und im Ãbrigen nur Holländisch sprach.
Die gesamte Verhandlung wurde auf Holländisch geführt, sodass Neele
nicht einmal zu sagen vermocht hätte, wovon jeweils die Rede war. Alles ging
sehr eilig und flüchtig vor sich. Sie wurde gar nicht befragt, sondern nur ihre
Aussage vom Vortag zitiert â die ersten deutschen Worte, die sie in diesem
Prozess hörte, in dem es doch um ihr Schicksal, vielleicht sogar um ihr Leben
ging!
Erst die Urteilsverkündung verlas der Richter wieder auf Deutsch.
Seine Stimme hallte durch den Raum, als käme sie von weit her. Neele hörte ihn
sagen: »Dem Gericht war es nicht möglich, die Ereignisse am Tag der Tat
zuverlässig zu rekonstruieren. Es muss daher offen bleiben, auf welche Weise
der Wedono Ameya zu Tode kam und was mit seiner Leiche geschah. Es muss offen
bleiben, ob Mijnheer Jürgen Simms oder eine weitere Person Schuld an seinem Tod
trug. Mit Gewissheit erkennt das Gericht nur, dass die Angeklagte, wie sie es
ja auch selbst eingestanden hat, den Tod des Mijnheer Simms herbeigeführt hat.
Ob sie das in Verteidigung ihrer weiblichen Ehre oder aus einem anderen Motiv
heraus tat, können wir nicht zweifelsfrei klären, halten uns jedoch an die
juristisch übliche Vorgehensweise âºIm Zweifel für den Angeklagtenâ¹. Das Gericht
sieht daher von der für Mord vorgesehenen Höchststrafe ab und verurteilt die
Angeklagte nur zu einer Strafe von acht Jahren Gefängnis.«
Neele wurde schwarz vor den Augen. Acht Jahre Gefängnis dafür, dass
sie Jürgen daran gehindert hatte, sie zu vergewaltigen? Sie wollte aufschreien,
aber der Schrei blieb in ihrer ausgedörrten Kehle stecken. Es hätte ihr auch
niemand mehr zugehört, denn der Richter schlug mit seinem Hammer auf den Tisch
und signalisierte damit das Ende der Verhandlung. Eine der Matronen, die die
weiblichen Gefangenen bewachten, tauchte auf und ergriff Neele am Ellbogen. Die
junge Frau erhob sich wankend und stolperte neben ihr her. Nur undeutlich nahm
sie wahr, dass es eine Treppe hinab und durch denselben Ziegelgang zurück ging,
durch den sie am Morgen den Gerichtssaal erreicht hatten. Man setzte sie in den
geschlossenen Wagen und brachte sie zurück an den Ort, an dem sie nach dem
Spruch des Gerichts die nächsten acht Jahre verbringen sollte.
Der Wagen hielt und entlieà seine Passagiere. Schweigend führte die
Wärterin Neele zurück in den Gefängnishof und lieà sie dort inmitten der
neugierigen Blicke stehen, die sich von allen Seiten auf die abgeurteilte Gefangene
richteten. Wäre sie eine der Ihren gewesen, die Frauen wären von allen Seiten
herbeigestürzt, um das Urteil zu erfahren, hätten sie
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