Im Land der Mond-Orchidee
war schon schlimm genug, diese Reise mit Frieder anzutreten, aber
ohne ihn? Immerhin hatte ich einen Mann an meiner Seite, jeder konnte mich als
verheiratete Frau erkennen ⦠Was soll ich allein in einem so fremden Land
machen?«
»Was du zu Hause auch gemacht hättest«, antwortete Paula mit fester
Stimme. »Deinen Verstand zusammennehmen und die Ãrmel hochkrempeln. Wir sind
bei dir, und wir fahren zu Leuten, die wir kennen â nun ja, Leuten, die man im
Dorf kannte und die uns Briefe schrieben und uns ermutigt haben. Pastor Ormus
wird sich deiner annehmen, da bin ich sicher. Und denk einmal so: Was hättest
du denn in Norderbrake? Ein Haus, das allmählich im Moor versinkt, und die
Gespenster der Vergangenheit.«
Neele musste zugeben, dass das stimmte, aber es war kein groÃer
Trost. Es hieà im Grunde nur, dass ihr der Rückweg verwehrt war. Sie konnte
nicht einmal darauf hoffen, dass sie ein anderes Schiff nehmen und zurückkehren
konnte, um weiter bei Tante Käthe und Onkel Merten zu leben, eben ohne Frieder â was die Lösung war, die sie am liebsten gehabt hatte. Paulas Lösung gefiel
ihr am allerwenigsten, denn die hieÃ: »Sieh dich doch erst einmal um in Java,
vielleicht gefällt es dir dort besser, als du denkst, und du willst gar nicht
mehr weggehen.«
Neele presste die Lippen zusammen, aber sie dachte: Niemals will ich
dort bleiben, bei den Geisterbäumen und den Feuer speienden Vulkanen, den
Tigern und den Opferaltären. Niemals. Niemals. Mit dem ersten Schiff, auf dem
ich einen Platz bekomme, fahre ich wieder nach Hause nach Deutschland. Wenn ich
nicht in Norderbrake leben kann, dann eben irgendwo anders im Heideland oder in
Bremerhaven. Unwillkürlich umklammerten ihre Hände den winzigen Stier, den sie
in das Täschchen vorne an ihrem Mieder gesteckt hatte. In ihm war ihre Heimat,
war das Moor, war Norderbrake.
»Mich hat keiner gefragt, ob ich nach Java will«, stieà sie trotzig
hervor. »Und falls mich jetzt doch einer fragt, sage ich: Nein. Hundert Mal
Nein. Wenn ihr irgendwas tun und mir irgendwie helfen wollt, dann helft mir,
dass ich so schnell wie möglich wieder nach Deutschland zurückkomme.«
So begann der erste von vielen Tagen im Bauch der Meisje Mariaan .
In der Kabine gab es kein Bullauge, sodass sie abends nur eine
einzige Lichtquelle hatten, nämlich die Petroleumlampe, die an dem Balken im
Korridor hing. Wenn sie die Tür offen lieÃen, kam gerade genug Licht herein, um
sich zu frisieren und die Kleider und persönlichen Gegenstände an ihren Ort
räumen zu können. Dann mussten sie abschlieÃen, denn beiden Frauen erschien es
viel zu gefährlich, inmitten so vieler Fremder â auch wenn es auf ihrer Seite
des Zwischendecks lauter Frauen waren â die Tür offen zu lassen, und es wurde
stockfinster. Kerzen und Lampen waren wegen der Gefahr offenen Feuers in der
dritten Klasse verboten.
Paula Anderlies wünschte Neele eine gute Nacht, wobei sie sich
fragte, ob die Freundin das nicht als blanken Hohn empfinden würde, dann rollte
sie sich zur Seite und zog sich die Decke über die Schultern. Sie konnte noch
immer kaum glauben, dass es endlich so weit war und sie sich an Bord des Liners
befanden. In den letzten Wochen hatte sie das Gefühl gehabt, dass jeder Tag doppelt
so lange dauerte wie üblich.
Sie war es eigentlich gewesen, die Lennert den Floh ins Ohr gesetzt
hatte, nach Java zu ziehen, als sie von der evangelischen Schule dort hörte. Wenn
man sie dort aufnahm, mussten sie nicht bei null anfangen, sondern konnten sich
in Ruhe umsehen, was es noch für Möglichkeiten gab, und einen Arzt konnte man
in einer Schule ja immer gut brauchen. AuÃerdem schien es ihr, dass dem alten
Geistlichen, der das Institut leistete, jede Hilfe willkommen sein musste, denn
sein Brief war ihr zwar sehr hoffnungsvoll im Inhalt, aber zittrig und
verworren in der Form erschienen. Nun, er musste jetzt über siebzig Jahre alt
sein, das war ein Alter, in dem man durchaus schon etwas gebrechlich wurde.
Ihre Gedanken wanderten zu der verzweifelten Situation, in der Neele
sich befand. Sie hatte Frieder nie sehr sympathisch gefunden, aber jetzt
verabscheute und verachtete sie ihn. Was für ein Feigling! Und wie heimtückisch
er seine Flucht ausgeklügelt haben musste! Wie kaltblütig hatte er seine
Pauschalkarte einem von den vielen, die an Bord wollten, verkauft und sich
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