Im Land der Mond-Orchidee
und sie erriet auch, warum: Die Schöne war
müde, sie hatte keine Lust, noch Stunden um Stunden auf dem Ehrenplatz zu
sitzen und zu warten, bis auch der Letzte vom Tanzboden verschwunden war.
Richard nahm jedoch wenig Rücksicht auf dieses Bedürfnis. Er ignorierte sie, und
als ihr Drängen heftiger wurde, fuhr er sie harsch an.
Neele fühlte sich plötzlich todtraurig, so sehr wurde sie an ihre
eigene Hochzeit erinnert. Bei ihr hatte es allerdings bis nach den
Festlichkeiten gedauert, ehe dieses Gefühl des Unglücklichseins sie überkam â
oben im Zimmer mit dem Alkovenbett, das traditionell der jungen Generation
vorbehalten war. Sie war noch unberührt gewesen und hatte keine groÃen
Erwartungen gehegt, aber so grob und kalt, wie Frieder gewesen war, muss ein
Mann nicht sein, das spürte sogar sie.
Sie beobachtete, wie die junge Ehefrau schlieÃlich energisch
aufstand und, von ihrer Mutter und Schwiegermutter begleitet, in die Kutsche
stieg, während Richard sich einen weiteren Krug hausgebrautes Bier kommen lieÃ.
In dieser Nacht würde er wohl kaum mehr in der Lage sein, seinen ehelichen
Pflichten nachzukommen. Vielleicht wusste er das schon und entzog sich einer gefährlichen
Konfrontation.
Neele schreckte aus ihren Gedanken, als Paula ihre Schulter
berührte. »Komm«, sagte sie. Ihr Mund lächelte, aber in ihrem Gesicht stand
Unbehagen. »Es reicht, lass uns zusehen, dass wir wieder nach Hause kommen. Ich
habe keine Lust, in der Dämmerung von Tausenden Mücken gestochen zu werden.«
Lennert, der gleich darauf zu den beiden Frauen trat, war weniger
diplomatisch. »Lasst uns abhauen«, flüsterte er. »Hier werden gleich die Fäuste
fliegen. Richard ist in einer unguten Stimmung. Ich glaube, dein Doktor hat
recht gehabt, Paula â in den Tropen macht der Alkohol reizbar, und die Leute
verfallen leicht dem Säuferwahnsinn. Jedenfalls möchte ich da nicht mit
hineingezogen werden.«
Sie zogen sich unauffällig in den Schatten der Palmen zurück und
traten zu ihrem Mietgefährt, das dort auf sie gewartet hatte. Als die Kutsche
in die StraÃe hinausholperte, beugte Neele sich in der Kurve hinaus und sah,
dass Lennert recht hatte: An der Hochzeitstafel war ein Streit ausgebrochen,
und Richard teilte gleichermaÃen brutal aus, wie er einstecken musste. Wenn sie
in schlechter Laune waren, lief man den Bewohnern dieses idyllischen Ortes
besser nicht über den Weg.
2
D r. Bessemer hatte
offenbar Wort gehalten, denn schon bald erhielten sie per Boten die
Aufforderung, sich im Sitz des deutschen Konsuls zu melden, man hätte Wichtiges
mit ihnen zu besprechen. Also mieteten sie eine Kutsche und fuhren zu dritt in
die Stadt, alle drei voll Neugier, aber auch mit einer gewissen Sorge, was der
Konsul wohl mit ihnen besprechen wollte. Seit dem Tod des Pastors hingen ihre
Angelegenheiten mehr denn je in der Luft. Bis dahin waren sie immerhin Gäste in
seinem Haus gewesen, aber hatten sie jetzt überhaupt noch das Recht, dort zu
wohnen? Gab es Erben, die sie auf die StraÃe setzen würden?
Das Konsulat auf dem Waterlooplein, ganz in der Nähe von Dr. Bessemers Amtssitz, war ein breitbrüstiges, feierliches Haus mit einer
Vorderfront aus griechischen Pfeilern. Neele merkte plötzlich, wie sehr sie
sich schon an das Leben im Dschungel gewöhnt hatte, dass die Stadt und dieses
Haus â von dessen Art man in Bremerhaven jede Menge gesehen hätte â sie so
beeindruckte. Eifrig strich sie Rock und Schürze glatt, rückte ihr Umschlagtuch
zurecht und machte sich bereit für die Audienz bei dem hohen Herrn.
Sie sprachen zuerst bei Dr. Bessemer vor, der sie hinüber ins
Konsulat geleitete â zusammen mit Ameya, was Neele sehr gelegen kam. Sofort
traten zwei uniformierte Diener heraus, sie wurden ins kühle Innere des
Gebäudes geleitet und gebeten, kurz in einem Vorzimmer zu warten.
Vorzimmer! Was für ein bescheidenes Wort für einen prunkvollen Raum!
Die Sitzbank aus gelbem Plüsch, auf der sie Platz nahmen, stand in einer Nische
eines geradezu endlosen Ganges mit Marmorboden und tief herabhängenden Lüstern,
die im einfallenden Sonnenschein glitzerten. Durch die innenseitigen Fenster
blickte man in einen dicht mit Palmen und Zykadeen bewachsenen Hof, der eine
wundervoll schattige Oase in der Mittagshitze bildete. In der Mitte lagen knapp
übereinander zu Stufen aufgereiht
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