Im Land der Mond-Orchidee
Konsul, und die Schwestern
vom Orden des heiligen Joseph wohnen darin. Wir haben kein Recht, dich hier
aufzunehmen, und ehrlich gesagt habe ich auch keine Lust. Ich mag die Art
nicht, wie du dich in mein Leben drängst. Ich mochte sie nie. Schon als wir
noch Kinder waren, hast du dich immer angestellt, als müsste ich tun, was du
willst, warum auch immer. Aber jetzt sage ich dir: Die Schwestern wollen nicht,
dass du dich hier aufhältst. Und ich will es auch nicht.«
»Schön, wie du willst«, sagte Jürgen mit gespielter Gelassenheit.
»Dann trinke ich meinen Kaffee eben beim alten Kröger unten im Dorfkrug. Aber
egal, ob du mich in deinem Haus haben willst oder nicht, ich habe dir etwas
mitgebracht, das du dir ansehen musst.«
»Was ist das?«, fragte sie misstrauisch.
Statt einer Antwort entnahm er seinem Ranzen einen dicken Packen
braunes Papier, der mit Zwirn zugeschnürt war. Als er die Verschnürung
durchschnitt, fielen eng beschriebene Blätter auseinander. Jürgen nahm eines
davon, das heller aussah und besser erhalten war als die anderen, und reichte
es ihr.
»Das war es, was ich dir an dem Abend sagen wollte, bevor du
abgereist bist. Ich hab Bescheid gewusst, genau wie der Pfarrer und der Schulmeister
und deine Verwandten. Deine Mutter lebt bis heute mit dieser Kugel im Kopf. Der
Arzt schreibt, die Kugel bewegt sich und verändert ihr Gehirn, manchmal ist sie
bei Sinnen, manchmal nicht. Aber sie schreibt immer wieder Briefe. Früher haben
die Ãrzte diese Briefe weggeworfen, aber seit einiger Zeit ist ein neuer Arzt
dort, der sich einbildet, es könnte für die Familie vielleicht wichtig sein,
was sie schreibt ⦠nun ja, lies es selbst.«
Neele nahm das Blatt aus seiner Hand. Es trug den Stempel einer
Heilanstalt am rechten oberen Rand und war in der energischen, zackigen
Handschrift eines jungen Mannes beschrieben. Er teilte mit, die Niederschriften
der Patientin, die seine früheren Kollegen ungelesen weggeworfen hätten,
machten seit einiger Zeit einen durchaus zusammenhängenden Eindruck auf ihn, es
sei vielleicht für ihre Anverwandten interessant zu lesen, was sie schreibe.
»Gut«, sagte sie. »Ich danke dir, dass du mir die Briefe mitgebracht
hast. Und jetzt geh wieder.«
Er zögerte, aber inzwischen waren die Schwestern hereingekommen, die
in der ersten Schicht frühstückten â ein Teil von ihnen war immer bei den
Kindern â, und Jürgen musste erfahren, dass er im Ernst hinausgewiesen wurde.
Er versuchte es mit Charme, er protestierte â nichts half. Schwester Florinda
sagte ihm rundheraus, sie hätten hier viel Arbeit, weder Neele noch Paula
hätten Zeit, mit ihm zu tändeln, und keine von beiden hätte ihn gebeten zu
kommen. SchlieÃlich verlieà er murrend das Haus. Er nannte kein Ziel, aber wie
Neele ihn und seine Stimmungen kannte, würde er sich auf der Stelle in den
Dorfkrug aufmachen und dort seinen Zorn mit Bier und Beerenschnaps löschen.
Abends, als sie allein war, setzte sie sich an den Tisch und
breitete die Briefe vor sich aus. Sie waren in einer eckigen, schwer
leserlichen Schrift auf billigem Papier mit brauner Tinte geschrieben und
hatten manchmal die Form richtiger Briefe, manchmal die Form von Tagebucheintragungen,
bei denen aber nicht klar wurde, aus welchem Zeitraum sie stammten. Zuweilen
wies irgendein Nebensatz darauf hin, wann der betreffende Eintrag geschrieben
worden war: »Mein Kindlein kann schon laufen, wenn auch nur auf allen vieren«,
oder: »Heiner will so bald wie möglich zurück zu seinen Leuten.« Einmal hatte sie geschrieben: »Sie sind wieder am Werk,
mein Gott! Als hätten diese armen Leute nicht schon genug Schreckliches
durchgemacht!«
Es war Neele bald klar, dass ihre Mutter hier keine zusammenhängenden
Erinnerungen niedergeschrieben hatte, sondern Bilder aus ihrem Inneren
auftauchten, die sie dann nachträglich und ungeordnet auf dem Papier fixierte.
Sie ärgerte sich, dass die Ãrzte über so lange Zeit hinweg die Notizen für
völlig uninteressant gehalten und einfach weggeworfen hatten. Wie wichtig wäre
es für sie gewesen, alles zu erfahren, was ihrer Mutter durch den Kopf ging!
Manchmal wusste diese, dass Neele inzwischen eine erwachsene Frau sein musste,
manchmal wieder sah sie sie als kleines Mädchen vor sich. Auch dass ihr Mann
nicht mehr lebte, war ihr einmal bewusst, dann wieder nicht. Sie
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