Im Land der Orangenbluten
drängten an Julies Ohren: die Rufe der Händler, die aus kleinen Läden ihre Waren feilboten, das Geschnatter der Sklavenfrauen, die sich in kleinen Grüppchen am Straßenrand trafen, das Gejauchze von halb nackten farbigen Kindern, die über die Straßen tollten. Julie sog diese ganze Stimmung in sich ein – wie einsam und still war es doch auf der Plantage gewesen! Zwar hatte Julie nie in einer größeren Stadt gelebt und bis auf den Markttag war auch in dem kleinen beschaulichen Elburg in den Niederlanden nicht viel losgewesen, aber die bloße Anwesenheit der vielen Menschen bot eine betörende Abwechslung zu dem gleichmäßigen Alltag mit immer denselben Menschen auf der Plantage.
Kiri folgte der Droschke zu Fuß. Das war wiederum nicht schwer, denn Jean Riard hatte den Kutscher angewiesen, langsam zu fahren. Julie war ihm für seine Umsicht dankbar, schließlich konnte sie nicht ganz allein mit dem jungen Mann durch die Stadt fahren. Sie glaubte zwar nicht, dass sich jemand an sie erinnern oder sie gar erkennen würde, aber man konnte schließlich nie wissen.
Vielleicht gab es ja sogar die Möglichkeit, Erika und Wilma wiederzusehen. Wenn sie nur wüsste, wo sie sie suchen musste ... Erika war vielleicht in der Mission, danach konnte sie Herrn Riard fragen. Aber Wilma? Die Stadt war ja nicht gerade klein.
Sie war froh, dass Riard sich an sein Versprechen erinnert hatte und sie nun durch die Stadt führte. Sonst hätte die Einsamkeit der Plantage sie vielleicht sogar in der Stadt eingeholt. Julie bestaunte Kirchen und Synagogen, alte Kolonialbauten und neue Gebäude. Riard erzählte von zwei großen Bränden, die ein paar Jahrzehnte zuvor die Stadt heimgesucht hatten und in deren Folge viele Neubauten entstanden waren. Julie lauschte ihm andächtig. Der Buchhalter hatte auf sie zwar auf der Plantage schon recht gebildet gewirkt, hier aber zeigte er sich mit Leidenschaft als Fremdenführer und wusste so manches zu erzählen. So wies er Julie gerade augenzwinkernd auf eine wichtige Bedeutung der kunstvoll geschlungenen Kopftücher der Sklavinnen hin. Da es ihnen verboten war, öffentlich über ihre Herren zu sprechen oder untereinander auf der Straße zu enge Beziehungen zu pflegen, nutzten sie ihre Kopfbedeckungen als Kommunikationsmittel. Angeblich zeigten sie wichtige Ereignisse im Leben der Trägerin an, wie zum Beispiel Geburten, Todesfälle, Familienstand oder Alter, aber auch die entsprechende Stimmung. Jean Riard deutete auf eine Frau am Straßenrand, deren Tuch zu mehreren Spitzen gefaltet war.
»Das heißt Lass mich in Ruhe «, lachte er, »das kenne ich noch von meiner Amme aus Kinderzeiten.«
Julie konnte kaum glauben, was sie da hörte, aber als sie genauer darauf achtete, wie unterschiedlich die Tücher geknotet, geschlagen und gebunden waren ...
Jean Riard ließ die Kutsche an einer weitläufigen Grünanlage halten, von hier an gingen sie zu Fuß. Kiri eilte sich, Julie den Schirm zu tragen; allen Damen, denen sie begegneten, folgte stets auf Schritt und Tritt eine Sklavin. Zweifelsohne bemühte sich Kiri dabei aber, ihrer Misi nicht zu sehr auf den Leib zu rücken, und schon bald brach ihr der Schweiß aus, weil sie mit langem Arm den Schirm über Julies Kopf zu halten versuchte. Unter den hohen Bäumen des Parks war es angenehm schattig, und vom Fluss wehte eine frische Briese, die die stickige Stadtluft verdünnte.
Julie schritt schweigend neben Riard her. Inzwischen deutete er nur noch ab und an auf einen Vogel oder einen Strauch und gab sein Wissen dazu preis. Vielmehr konzentrierte er seine Aufmerksamkeit jetzt auf Julie, ließ seinen Blick länger auf ihr ruhen und lächelte sie fast zärtlich an. Ganz selbstverständlich hatte Julie sich bei ihm untergehakt.
Auf einer Bank legten sie eine Rast ein. »Ich ...«, Riard faltete verlegen die Hände im Schoß, »... ich würde mich freuen, wenn ich Sie nochmals besuchen dürfte, solange Sie in der Stadt verweilen«, sagte er langsam.
»Aber natürlich!« Seine Verlegenheit rührte ihr Herz. Hatte er eben noch so offen mit ihr geplaudert, schien ihm jetzt diese Frage nur zögerlich über die Lippen zu kommen. »Ich würde mich freuen, ich bin doch schließlich allein momentan«, sagte Julie scherzhaft, in dem Versuch, ihn zu entspannen.
Er wiegte den Kopf. »Hm, ja eben. Ich möchte Sie ja nicht ... in eine verwerfliche Situation bringen. Mijnheer Leevken ...«
»Ach, Mijnheer Riard, ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher