Im Land der weissen Rose
ich dir das noch sagen? Nancy,
achte auf deinen Bruder!«
Die junge Frau – George schätzte sie auf höchstens
achtzehn Jahre – stand ziemlich hilflos am Rand des schlammigen
Uferstreifens. Sie trug glänzend polierte, ordentliche schwarze
Schnürschuhe zu einem schlichten, dunkelblauen Tuchkleid.Wenn
sie dem Kleinen ins Brackwasser folgte, würde sie sich beides
verderben. Dem kleinen Mädchen vor ihr erging es ähnlich.
Es war sauber und adrett gekleidet und hatte sicher die Anweisung
erhalten, sich nicht schmutzig zu machen.
»Er hört nicht auf mich, Missy!«, sagte die
Kleine brav.
Der Junge hatte seinen Matrosenanzug schon von oben bis unten mit
Schlamm beschmiert.
»Ich komm, wenn du mir Schiffchen faltest!«, rief er
jetzt unartig zu seiner Nanny hinüber. »Dann gehen wir zum
See und lassen sie schwimmen.«
Der »See« war nicht mehr als eine große Pfütze,
die übrig geblieben war, als der Fluss im Winter Hochwasser
führte. Er sah nicht sehr sauber aus, aber zumindest gab es
keine gefährliche Strömung.
Die junge Frau schien unschlüssig. Bestimmt wusste sie, dass
es falsch war, sich auf Verhandlungen einzulassen, aber sie mochte
offensichtlich nicht durch den Matsch waten und den Kleinen mit
Gewalt holen. Schließlich versuchte sie es mit einem
Gegenvorschlag.
»Aber erst üben wir deine Aufgaben! Ich will nicht,
dass du heute Abend wieder nichts weiß, wenn dein Vater dich
fragt.«
George schüttelte den Kopf. Helen hatte in ähnlichen
Situationen mit William nie nachgegeben.Aber diese Gouvernante war
deutlich jünger und offenbar viel weniger erfahren, als Helen
damals im Hause der Greenwoods. Sie wirkte beinahe verzweifelt; das
Kind überforderte sie sichtlich. Trotz ihrer mürrischen
Miene war sie hübsch: George blickte in ein herzförmiges
zartes Gesicht mit sehr heller Haut, klaren blauen Augen und hellen
rosa Lippen. Ihr Haar war fein und blond, gebändigt zu einem
lockeren Knoten im Nacken, der aber nicht gut hielt. Entweder war ihr
Haar zu weich, um sich aufstecken zu lassen, oder das Mädchen
war eine schlechte Frisörin.Auf ihrem Kopf saß eine
adrette Haube, passend zum Kleid.Alles sehr schlicht, doch keine
Dienstbotenuniform. George revidierte seinen ersten Eindruck. Das
Mädchen war Hauslehrerin, keine Nanny.
»Ich löse eine Aufgabe, dann krieg ich das Boot!«,
rief Robert selbstbewusst. Er hatte eben einen ziemlich baufälligen
Bootssteg entdeckt, der weiter auf den Fluss hinausführte, und
balancierte vergnügt darüber. George war alarmiert. Bis
jetzt ward er Kleine nur aufsässig gewesen, nun aber bestand
wirklich Gefahr. Die Strömung war sehr stark.
Die Hauslehrerin sah es ebenfalls, wollte aber nicht kampflos
aufgeben.
»Du löst drei Aufgaben«, schlug sie vor. Ihre
Stimme klang brüchig.
»Zwei!« Der kleine Junge, er mochte sechs Jahre alt
sein, schaukelte auf einem lockeren Brett.
George reichte es jetzt. Er trug schwere Reitstiefel, mit denen er
den Schlamm leicht durchqueren konnte. Mit drei Schritten war er auf
dem Bootssteg, schnappte sich den lamentierenden Kleinen und trug ihn
kurzerhand über den Uferstreifen zurückzu seiner Lehrerin.
»Hier, ich glaube, der ist Ihnen entlaufen!« George
lachte sie an.
Die junge Frau zögerte zunächst – unsicher, was
sich in dieser Lage schickte. Dann aber siegte die Erleichterung, und
sie lächelte ebenfalls. Es war aber auch zu komisch, wie Robert
unter demArm des Fremden strampelte wie ein ungebärdiger Welpe.
Seine Schwester kicherte schadenfroh.
»Drei Aufgaben, junger Mann, dann lasse ich dich los«,
bemerkte George.
Robert jammerte zustimmend, worauf George ihn absetzte. Die
Lehrerin nahm ihn sofort am Kragen und drückte ihn auf die
nächstbeste Parkbank.
»Vielen Dank«, sagte sie mit züchtig
niedergeschlagenen Augen. »Ich hatte mir Sorgen gemacht. Er ist
oft unartig ...«
George nickte ihr zu und wollte schon weitergehen, doch
irgendetwas hielt ihn zurück. So suchte er sich ebenfalls eine
Bank, nicht weit weg von der Lehrerin, die ihren Zögling jetzt
zur Ruhe zwang. Während sie ihn auf der Bank festhielt,
versuchte sie, ihm wenn schon nicht die Lösung, so doch immerhin
eine Antwort auf eine Rechenaufgabe zu entlocken.
»Zwei und drei – wie viel ist das, Robert? Wir haben
es mit Bauklötzchen gestellt, weißt du
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