Im Land der weissen Rose
sämtliche Türen.
Schließlich schlug es zehn Uhr, und pünktlich auf die
Minute betrat der Ehrenwerte Sir Justice Stephen seinen Gerichtssaal
und eröffnete das Verfahren. Für die meisten Zuschauerwurde
es allerdings erst interessant, alsderAngeklagte hereingeführt
wurde. James McKenzies Auftauchen rief eine Mischung aus
Beschimpfungen und Hochrufen hervor. James selbst reagierte weder auf
das eine noch das andere, sondern hielt den Kopf gesenkt und schien
froh zu sein, dass der Richter dem Publikum Einhalt gebot.
Gwyneira spähte hinter dem großen Farmarbeiter hervor,
hinter den sie sich gesetzt hatte – eine schlechte Wahl, denn
sowohl Gerald als auch Paul hatten eine bessere Sicht. Abe rsie hatte
ja vor Sideblossom fliehen wollen. James McKenzie konnte sie erst
richtig mustern, als er auf den Platz neben seinem lustlos wirkenden
Pflichtverteidiger geführt wurde. Vor allem sah er endlich auf,
nachdem er Platz genommen hatte.
Gwyneira fragte sich seit Tagen, was sie empfinden würde,
wenn sie James erneut nahe kam. Ob sie ihn überhaupt erkennen
und wieder das in ihm sehen könnte, was sie damals ... ja, was?
Beeindruckt hatte? Verzaubert hatte? Was immer es gewesen war, es lag
zwölf Jahre zurück. Vielleicht war ihre Aufregung
überflüssig. Vielleicht würde er nur noch ein Fremder
für sie sein, den sie auf der Straße nicht einmal erkannt
hätte.
Doch schon der erste Blick auf den großen Mann auf der
Anklagebank belehrte sie eines Besseren. James McKenzie hatte sich
kaum verändert. Zumindest nicht für Gwyneira. Nach den
Zeichnungen in den Zeitungen, die von seiner Verhaftung berichteten,
hatte sie mit einem wilden, bärtigen Gesellen gerechnet, doch
jetzt war McKenzie glatt rasiert und trug saubere, schlichte
Kleidung. Nach wie vor war er schlank und sehnig, doch das
Muskelspiel unter seinem schon etwas abgetragenen weißen Hemd
verriet seine Kraft. Sein Gesicht war braun gebrannt – außer
an den Stellen, die zuvor der Bart verdeckt hatte. Seine Lippen
wirkten schmal – ein Zeichen, dass er sich Sorgen machte.
Gwyneira hatte diesen Ausdruck oft an ihm gesehen. Und dann seine
Augen ... Nichts, gar nichts hatte sich an ihrem verwegenen, wachen
Ausdruck geändert. Natürlich stand jetzt kein spöttisches
Lachen darin, sondern Anspannung und vielleicht so etwas wie Angst,
doch die Fältchen von früher waren noch da, wenn auch
tiefer eingegraben, so wie James’ ganzer Ausdruck härter,
reifer und viel ernster geworden war. Gwyneira hätte ihn auf den
ersten Blick erkannt. Oh ja, sie hätte ihn unter allen Männern
auf der Südinsel, wenn nicht der ganzen Welt erkannt.
»James McKenzie!«
»Euer Ehren?«
Gwyneira hätte auch seine Stimme wiedererkannt. Diese dunkle,
warme Stimme, die so zärtlich sein konnte, aber auch fest und
sicher, wenn er seinen Männern oder den Hütehunden Befehle
zurief.
»Mr. McKenzie, man wirft Ihnen vor, sowohl in den Canterbury
Plains als auch im Gebiet um Otago Viehdiebstähle großen
Ausmaßes verübt zu haben. Bekennen Sie sich schuldig?«
McKenzie zuckte die Schultern. »In der Gegend wird viel
gestohlen. Ich wüsste nicht, was mich das angeht...«
Der Richter sog scharf die Luft ein. »Es gibt Aussagen
ehrenwerter Männer, dass man Sie mit einer Herde gestohlener
Schafe oberhalb des Lake Wanaka angetroffen habe. Geben Sie
wenigstens das zu?«
James McKenzie wiederholte die Bewegung von eben. »Gibt
viele McKenzies. Gibt viele Schafe!«
Gwyneira musste fast lachen, machte sich dann aber eher Sorgen.
Dies war wohl die sicherste Methode, den Ehrenwerten Sir Justice
Stephen zur Weißglut zu treiben. Dabei war es völlig
sinnlos zu leugnen. McKenzies Gesicht zeigte noch Spuren der
Schlägerei mit Sideblossom – und auch Sideblossom musste
übel zugerichtet gewesen sein. Gwyn empfand eine gewisse
Genugtuung, dass sein Auge noch deutlich stärker blutunterlaufen
war als das von James.
»Kann irgendjemand im Saal bezeugen, dass es sich hier um
den Viehdieb McKenzie und nicht zufällig um jemand anderen
dieses Namens handelt?«, fragte der Richter seufzend.
Sideblossom stand auf. »Ich kann es bezeugen. Und wir haben
auch einen Beweis hier, der wohl jeden Zweifel ausräumen
dürfte.« Er wandte sich zum Eingang des Saales, wo er
einen Helfer aufgestellt hatte. »Lass den Hund
Weitere Kostenlose Bücher