Im Land Der Weissen Wolke
Dilemma allein gelassen hatte, andererseits konnte sie seine Flucht verstehen. Doch Gwyneiras Gefühle regten sich seit James’ Weggang und Pauls Geburt ohnehin nur schwach; es war fast, als hielte sie ihre Empfindungen unter einer Dunstglocke. Wenn sie nichts fühlte, war sie auch nicht angreifbar.
»Die Gründe hatten nichts mir dir zu tun? Oder mit dem Baby?«, bohrte Helen weiter. »Lüg mich nicht an, Gwyn, du musst dich der Sache stellen. Sonst reden bald alle darüber. In Haldon munkeln sie schon, und die Maoris reden auch. Du weißt, die erziehen ihre Kinder gemeinsam, das Wort ›Mutter‹ hat da nicht die gleiche Bedeutung wie bei uns, und Kiri findet nichts dabei, Paul mitzuversorgen. Aber so ein Mangel an Interesse, wie du an dem Baby zeigst ... Du solltest Matahorua um Rat fragen!«
Gwyn schüttelte den Kopf. »Was soll sie mir denn raten? Kann sie Lucas wieder herschaffen? Kann sie ...« Sie hielt erschrocken inne. Beinahe hätte sie mehr verraten, als irgendjemand auf der Welt je wissen dürfte.
»Sie könnte dir vielleicht helfen, besser mit dem Kind zurechtzukommen«, hakte Helen nach. »Warum stillst du es eigentlich nicht? Hast du keine Milch?«
»Kiri hat Milch für zwei ...«, meinte Gwyneira wegwerfend. »Und ich bin eine Lady. Es ist in England nicht üblich für Frauen wie mich, ihre Kinder zu stillen.«
»Du bist verrückt, Gwyn!« Helen schüttelte den Kopf. Langsam wurde sie wirklich wütend. »Denk dir wenigstens bessere Ausreden aus. Das mit der Lady glaubt dir doch kein Mensch. Also noch mal: Ist Lucas fort, weil du schwanger warst?«
Gwyn schüttelte den Kopf. »Lucas weiß gar nichts von dem Baby ...«, sagte sie leise.
»Also hast du ihn betrogen? Sie munkeln das in Haldon, und wenn es so weitergeht ...«
»Verdammt, wie oft soll ich es dir noch sagen? Dieses verfluchte Kind ist ein Warden!« Gwyneiras ganzer Zorn brach plötzlich aus ihr heraus, und sie begann zu schluchzen. Das alles hatte sie nicht verdient. Sie war so diskret vorgegangen bei Fleurs Zeugung. Niemand, absolut niemand zweifelte an ihrer Legitimität. Und der echte Warden sollte nun als Bastard gelten?
Helen dachte angestrengt nach, während Gwyneira weinte und weinte. Lucas wusste nichts von der Schwangerschaft – und Gwyneiras bisherige Probleme, Kinder zu empfangen, gingen nach Matahoruas Meinung auf seine Rechnung. Wenn also ein Warden dieses Kind gezeugt hatte, dann ...
»Oh Gott, Gwyn ...« Helen wusste, dass sie ihren Verdacht niemals aussprechen durfte, doch ihr selbst stand das Szenario nun deutlich vor Augen. Gerald Warden musste Gwyneira geschwängert haben – und es sah nicht aus, als wäre es mit Gwyns Zustimmung erfolgt. Tröstend nahm sie die Freundin in die Arme. »Oh, Gwyn, ich war so dumm. Ich hätte es gleich wissen müssen. Stattdessen quäle ich dich mit tausend Fragen. Aber du ... du musst das jetzt vergessen! Egal, wie Paul gezeugt worden ist. Er ist dein Sohn!«
»Ich hasse ihn!«, schluchzte Gwyneira.
Helen schüttelte den Kopf. »Dummes Zeug. Du kannst ein kleines Kind nicht hassen. Was immer auch geschehen ist, Paul kann nichts dafür. Er hat ein Anrecht auf seine Mutter, Gwyn. Genau wie Fleur und Ruben. Denkst du, dessen Zeugung hätte mir besonderen Spaß gemacht?«
»Du hast es immerhin freiwillig getan!«, brauste Gwyn auf.
»Dem Kind ist das egal. Bitte, Gwyn, versuch es wenigstens. Bring den Kleinen mit, stell ihn den Frauen in Haldon vor – sei ein bisschen stolz auf ihn! Dann wird es schon mit der Liebe!«
Gwyneira hatte das Weinen gut getan, und sie war erleichtert, dass Helen nun Bescheid wusste, ohne sie zu verurteilen. Die Freundin hatte offensichtlich keinen Moment lang angenommen, Gwyn hätte Gerald freiwillig beigelegen – ein Albtraum, der Gwyneira verfolgte, seit sie von der Schwangerschaft erfahren hatte. Seit James’ Weggang ging ein solches Gerücht im Stall herum, und Gwyn war nur froh, dass es wenigstens James McKenzie entgangen war. Sie hätte es nicht ertragen, von James danach gefragt zu werden. Wobei Gwyns »Züchter-Ich« den Gedankengang durchaus nachvollziehen konnte, der ihre Arbeiter und Freunde zu dieser Annahme bewog. Nachdem Lucas’ Versagen offenkundig war, wäre die Zeugung des Erben mit Gerald eine durchaus nahe liegende Lösung gewesen. Gwyn fragte sich, warum sie bei der Suche nach dem Vater für ihr erstes Kind nicht auf diese Idee gekommen war – vielleicht, weil Lucas’ Vater ihr so aggressiv entgegentrat, dass sie jedes
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