Im Land Der Weissen Wolke
erniedrigen. Die relativ geringe Strafe, die Paul erhalten hätte, stand in keinem Verhältnis dazu.
»Wo warst du denn?«, fragte Marama mit ihrer singenden Stimme, als die Reiter sich ausreichend weit von Tonga entfernt hatten. »Miss Helen hat dich gesucht.«
»Ich hab Geheimnisse aufgedeckt!«, erklärte Paul wichtig. »Du glaubst nicht, was ich herausgefunden habe!«
»Hast du einen Schatz gefunden?«, fragte Marama sanft. Es hörte sich nicht so an, als wäre ihr die Sache besonders wichtig. Wie die meisten Maoris machte sie sich nicht viel aus den Dingen, die pakeha als wertvoll erachteten. Hätte man Marama einen Goldbarren und einen Jadestein hingehalten, hätte sie sich wahrscheinlich für Letzteren entschieden.
»Nein, sag ich doch, ein Geheimnis! Um Ruben und Fleur. Die treiben es miteinander!« Paul wartete Beifall heischend auf Maramas Reaktion. Die fiel allerdings sparsam aus.
»Ach, das weiß ich doch, dass die sich lieben! Das weiß jeder!«, behauptete Marama gelassen. Wahrscheinlich betrachtete sie es als ganz selbstverständlich, dass die beiden ihren Gefühlen auch Taten folgen ließen. Bei den Stämmen herrschte eine sehr lockere Sexualmoral. Solange ein Paar sich unter Ausschluss der Öffentlichkeit liebte, beachtete man es einfach nicht. Bereiteten die beiden sich allerdings ein gemeinsames Lager im Gemeinschaftshaus, galt eine Ehe als geschlossen. Das verlief gänzlich unspektakulär und meist ohne größere Vorverhandlungen der Eltern. Auch große Feste zur Feier einer Hochzeit waren eher unüblich.
»Aber sie können nicht heiraten!«, trumpfte Paul auf. »Weil es eine alte Fehde zwischen meinem Großvater und Rubens Vater gibt.«
Marama lachte. »Aber es heiraten doch nicht Mr. Gerald und Mr. Howard, sondern Ruben und Fleur!«
Paul schnaubte. »Du verstehst das nicht! Hier geht es um Familienehre! Fleur verrät ihre Ahnen ...«
Marama runzelte die Stirn. »Was haben denn die Ahnen damit zu tun? Die Ahnen wachen über uns, die wollen unser Bestes. Man kann sie nicht verraten. Glaub ich wenigstens. Jedenfalls habe ich noch nie davon gehört. Außerdem ist noch gar nicht von Hochzeit die Rede.«
»Aber bald!«, erklärte Paul gehässig. »Sobald ich Großvater von Fleur und Ruben erzählt habe, wird sehr schnell von all dem die Rede sein! Das kannst du mir glauben!«
Marama seufzte. Sie hoffte, dann nicht im großen Haus zu sein, denn sie hatte immer ein wenig Angst, wenn Mr. Gerald herumpolterte. Miss Gwyn mochte sie gern und Fleur eigentlich auch. Sie verstand nicht, was Paul gegen sie hatte. Aber Mr. Gerald ... Marama beschloss, gleich in die Siedlung zu gehen und dort beim Kochen zu helfen, statt ihrer Mutter auf Kiward Station zur Hand zu gehen. Vielleicht konnte sie ja wenigstens Tonga besänftigen. Der hatte sie vorhin so wütend angesehen, als sie zu Paul aufs Pferd geklettert war. Und Marama hasste es, wenn jemand ihr böse war.
Gwyneira erwartete ihren Sohn im Empfangszimmer, das sie inzwischen zu einer Art Büro umfunktioniert hatte. Schließlich gaben hier ohnehin niemals Gäste Visitenkarten ab, um dann die Benachrichtigung der Familie beim Tee zu erwarten. Also konnte sie den Raum auch anderweitig nutzen. Große Angst vor den Reaktionen ihres Schwiegervaters hatte sie dabei nicht mehr. Gerald ließ ihr mittlerweile bei fast allen Entscheidungen, die das Haus betrafen, freie Hand und erhob auch selten Einwände, wenn sie sich in die Angelegenheiten der Farm einmischte. Nun arbeiteten die beiden auch auf diesem Gebiet gut zusammen. Sowohl Gerald als auch Gwyneira waren geborene Farmer und Viehzüchter, und nachdem Gerald vor einigen Jahren auch Rinder angeschafft hatte, kristallisierten sich immer mehr klare Zuständigkeiten heraus: Gerald kümmerte sich um die Longhorns, Gwyneira beaufsichtigte die Schaf-und Pferdezucht. Letzteres war im Grunde die größere Aufgabe, aber darüber, dass Gerald oft zu betrunken war, um rasch komplexe Entscheidungen zu treffen, wurde nicht gesprochen. Stattdessen wandten die Arbeiter sich einfach an Gwyn, wenn es ihnen nicht geraten schien, den Herrn des Anwesens anzusprechen, und erhielten dann klare Anweisungen. Im Grunde hatte Gwyneira damit ihren Frieden mit ihrem Dasein und vor allem mit Gerald gemacht. Insbesondere seit sie seine und Howards Geschichte kannte, konnte sie ihn nicht mehr so abgrundtief hassen wie in den ersten Jahren nach Pauls Geburt. Ihr war längst klar, dass er Barbara Butler nie geliebt hatte. Ihre Ansprüche,
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