Im Land Der Weissen Wolke
Sommer suchte er sich seit Jahren einen Schlafplatz im Stall, um seine Eltern nicht zu stören.
Er zitterte, als Helen mit einer Schüssel Wasser und einem Lappen zu ihm kam, um sein Gesicht abzuwaschen. »Es ist nichts, Mom ... Mein Gott, hoffentlich geschieht Fleur nichts.«
Helen tupfte ihm vorsichtig das Blut von der Lippe. »Fleur wird nichts passieren. Aber wie ist er dahintergekommen? Verflixt, ich hätte doch ein Auge auf diesen Paul werfen sollen!«
»Irgendwann hätten sie’s sowieso erfahren«, meinte Ruben. »Und dann ... ich werde morgen von hier verschwinden, Mom. Mach dich schon mal darauf gefasst. Ich bleibe keinen Tag länger in seinem Haus ...« Er wies in die Richtung, in die Howard verschwunden war.
»Du wirst morgen krank sein«, sagte Helen. »Und wir sollten nichts überstürzen. George Greenwood ...«
»Onkel George kann uns da auch nicht mehr helfen, Mutter. Ich gehe nicht nach Dunedin. Ich gehe nach Otago. Da gibt es Gold. Ich ... ich werde welches finden, und dann hole ich Fleur hier heraus. Und dich auch. Er ... er darf dich nicht mehr schlagen!«
Helen sagte nichts mehr. Sie bestrich die Wunden ihres Sohnes mit einer kühlenden Salbe und saß bei ihm, bis er eingeschlafen war. Dabei dachte sie an all die Nächte, die sie so bei ihm verbracht hatte, wenn er krank war oder aus einem Albtraum aufschreckte und sie einfach bei sich haben wollte. Ruben hatte sie immer glücklich gemacht. Aber jetzt hatte Howard auch das zerstört. Helen schlief nicht in dieser Nacht.
Sie weinte.
3
Auch Fleurette weinte sich in dieser Nacht in den Schlaf. Sowohl sie als auch Gwyneira und Paul hörten Gerald spät am Abend zurückkommen, aber keiner brachte den Mut auf, den Alten zu fragen, was vorgefallen war. Am Morgen war Gwyneira dann die Einzige, die wie gewohnt zum Frühstück herunterkam. Gerald schlief seinen Rausch aus, und Paul wagte sich nicht zu zeigen, solange nicht die Chance bestand, seinen Großvater zwecks Aufhebung des Stubenarrests auf seine Seite zu ziehen. Fleurette hockte verschreckt und antriebslos in einer Ecke ihres Bettes, Gracie an sich gepresst wie ihre Mutter damals Cleo und gepeinigt von den schrecklichsten Vorstellungen. Dort fand sie Gwyneira, nachdem Andy McAran ihr Meldung über einen unangekündigten Besucher im Stall gemacht hatte. Gwyn vergewisserte sich sorgfältig, dass sich weder bei Gerald noch bei Paul etwas regte, bevor sie ins Zimmer ihrer Tochter schlüpfte.
»Fleurette? Fleurette, es ist neun Uhr! Was machst du denn noch im Bett?« Gwyneira schüttelte so tadelnd den Kopf, als wäre es ein ganz normaler Tag, und Fleur hätte nur die Zeit für die Schule verschlafen. »Jetzt zieh dich an, aber schnell. Im Pferdestall ist jemand für dich. Und der kann ganz sicher nicht ewig warten.«
Sie lächelte ihrer Tochter verschwörerisch zu.
»Da ist jemand, Mummy!« Fleurette sprang auf. »Wer? Ist es Ruben? Oh, wenn es Ruben ist, wenn er lebt ...«
»Natürlich lebt er, Fleurette. Dein Großvater ist ein Mann, der rasch wilde Drohungen ausstößt und schnell die Fäuste gebraucht. Aber er bringt doch niemanden um! Zumindest nicht gleich – wenn er den Jungen jetzt bei uns in der Scheune antrifft, garantiere ich für nichts mehr.« Gwyneira half Fleur, rasch in ein Reitkleid zu schlüpfen.
»Du passt aber auf, dass er nicht kommt, ja? Und Paul ...« Fleurette schien sich vor ihrem Bruder fast ebenso zu fürchten wie vor ihrem Großvater. »Er ist ein solcher Mistkerl! Du glaubst doch nicht wirklich, dass wir ...«
»Ich halte den Jungen für viel zu intelligent, als dass er das Risiko eingeht, dich zu schwängern«, sagte Gwyneira nüchtern. »Und du, Fleurette, bist genauso klug wie er. Ruben will zum Studieren nach Dunedin, und du musst noch ein paar Jahre älter werden, bevor an eine Ehe auch nur zu denken ist. Und dann sind die Chancen für einen jungen Anwalt, der möglicherweise in der Firma von George Greenwood arbeitet, viel größer als für einen Farmjungen, dessen Vater von der Hand in den Mund lebt. Behalt das auch heute Morgen im Auge, wenn du den Jungen triffst. Obwohl ... nach dem, was McAran so erzählt hat, ist der heute kaum in der Lage, jemanden zu schwängern ...«
Gwyneiras letzte Bemerkung nährte wieder einmal Fleurs schlimmste Befürchtungen. Statt ihren Wachsmantel zu suchen – draußen regnete es in Strömen –, warf sie sich nur hastig ein Tuch über die Schultern und eilte dann die Treppen hinunter. Ihr Haar hatte sie auch nicht
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