Im Land Der Weissen Wolke
man nicht«, wiederholte sie Daphnes Bemerkung von gestern.
Mary schaute sie aus runden blauen Augen sehr ernst an. »Das ist aber nicht unser Gewerbe, Miss. Wir sind anständige Mädchen, das weiß jeder. Na ja, wir tanzen ein bisschen. Aber wir tun nichts Unkeusches. Also, nichts richtig Unkeusches. Nichts mit Männern.«
Fleurette wunderte sich. Konnte sich ein so kleines Etablissement wie Daphnes wirklich zwei Küchenmädchen leisten?
»Wir putzen auch bei Mister Ethan und beim Friseur, Mr. Fox, damit wir was dazuverdienen. Aber immer ehrbar, da passt Daphne schon auf. Wenn uns einer anrührt, macht sie Ärger. Gewaltigen Ärger!« Marys Kinderaugen schauten verklärt. Sie schien tatsächlich ein bisschen zurückgeblieben. Ob Daphne sich deshalb der Mädchen annahm? Aber jetzt musste sie wirklich gehen.
Mary winkte ab, als sie das Zimmer bezahlen wollte. »Das regeln Sie mal mit Daphne, Miss, wenn Sie mal wieder reinschauen. Sie können auch heute Abend gern wiederkommen, soll ich Ihnen ausrichten. Falls das nichts wird mit ... mit Ihrem Freund ...«
Fleurette nickte dankbar und lächelte in sich hinein. Offensichtlich war sie bereits Stadtgespräch in Queenstown. Und die Gemeinde schien nicht sehr optimistisch, was ihre Liebesangelegenheiten anging. Fleurette selbst war umso glücklicher, als sie jetzt zunächst nach Süden am See entlangritt, und dann den breiten Fluss hinauf nach Westen. Größere Goldgräberlager passierte sie dabei nicht. Die lagen auf dem Gelände alter Schaffarmen, meist näher an Queenstown als Rubens Claim. Die Männer hatten dort Barackensiedlungen erbaut, doch in Marys Augen handelte es sich eher um eine Art Neuauflage von Sodom und Gomorrha. Die junge Frau hatte das sehr plastisch ausgeführt; anscheinend kannte sie ihre Bibel. Fleur war jedenfalls froh, Ruben nicht in dieser Horde rauer Gesellen suchen zu müssen. Sie lenkte Niniane am Flussufer entlang und freute sich an der klaren und ziemlich kalten Luft. In den Canterbury Plains war es jetzt, im Spätsommer, noch warm, aber diese Gegend lag höher, und die Bäume am Weg vermittelten bereits einen Vorgeschmack des herbstlichen Farbenspiels, das hier zu erwarten war. In wenigen Wochen würden die Lupinen blühen.
Fleur fand es allerdings sonderbar, dass die Gegend so menschenleer war. Wenn man hier Claims abstecken konnte, hätte es doch eigentlich vor Goldsuchern wimmeln müssen!
Ethan, der Posthalter, führte genaue Aufzeichnungen über die Lage der einzelnen Claims und hatte ihr Rubens und Stues Schürfgebiet genau beschrieben. Es wäre aber auch so nicht schwer zu finden gewesen. Die Männer lagerten am Fluss, und sowohl Gracie als auch Niniane wurden ihrer eher gewahr als Fleur. Niniane spitzte die Ohren und stieß dann ein ohrenbetäubendes Wiehern aus – das gleich darauf erwidert wurde. Auch Gracie witterte und sauste los, um Ruben zu begrüßen.
Fleur sah zuerst Minette. Die Stute stand etwas abseits vom Flussufer angebunden neben einem Maultier und schaute aufgeregt zu ihr hinüber. Näher am Fluss erkannte Fleur eine Feuerstelle sowie ein primitives Zelt. Zu nah am Fluss, schoss es ihr durch den Kopf. Wenn der Shotover plötzlich anschwoll – und das kam bei Flüssen, die aus dem Gebirge gespeist wurden, häufig vor –, würde er das Lager davonreißen.
»Minnie!« Fleurette rief ihre Stute an, und Minette antwortete mit tiefem, glücklichem Brummen. Niniane strebte auf sie zu. Fleur ließ sich aus dem Sattel gleiten, um ihr Pferd zu umarmen. Aber wo war Ruben? Aus dem lichten Wald, der gleich hinter dem Lager begann, hörte sie das Geräusch von Sägen und Hammerschläge – die dann aber plötzlich verstummten. Fleurette lächelte. Gracie musste Ruben entdeckt haben.
Tatsächlich kam der Junge gleich darauf im Laufschritt aus dem Wald. Fleurette schien das Ganze wie ein Wirklichkeit gewordener Traum. Ruben war da, sie hatte ihn gefunden! Und auf den ersten Blick sah er gut aus. Sein schmales Gesicht war braun gebrannt, und seine Augen leuchteten wie immer, wenn er sie sah. Doch als er sie in die Arme schloss, spürte sie seine Rippen; er war erschreckend mager. Dazu waren seine Züge von Müdigkeit und Erschöpfung geprägt, seine Hände rau und voller Wunden und Abschürfungen. Ruben war nach wie vor kein begnadeter Handarbeiter.
»Fleur, Fleur! Wie kommst du hierher? Wie hast du mich gefunden? Hast du die Geduld verloren und bist weggelaufen? Du bist schrecklich, Fleurette!« Er lachte sie an.
»Ich
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