Im Land Der Weissen Wolke
ewig, und auch dann schreckten sie bei jedem Geräusch auf. Als Rosie zum dritten Mal zu Helen ins Bett kroch, hatte diese nicht mehr das Herz und vor allem nicht mehr die Energie, das Kind zurückzuschicken. Auch Laurie und Mary klammerten sich aneinander, und Dorothy und Elizabeth fand Helen am nächsten Morgen eng zusammengekuschelt in einer Ecke von Dorothys Koje. Nur Daphne schlief tief und fest; falls sie träumte, mussten es schöne Träume sein, denn das Mädchen lächelte im Schlaf, als Helen es schließlich weckte.
Der erste Morgen auf See zeigte sich unerwartet freundlich. Mr. Greenwood hatte Helen darauf vorbereitet, dass die ersten Wochen der Reise stürmisch werden könnten, da zwischen dem Ärmelkanal und der Bucht von Biskaya meist raue See herrschte. Heute gewährte das Wetter den Auswanderern aber noch eine Gnadenfrist. Die Sonne schien nach dem Regentag ein wenig blass, und das Meer schimmerte stahlgrau im fahlen Licht. Die Dublin bewegte sich behäbig und gelassen über die glatte Wasserfläche.
»Ich sehe gar kein Ufer mehr«, flüsterte Dorothy verängstigt. »Wenn wir jetzt untergehen, findet uns keiner! Dann müssen wir alle ertrinken!«
»Du wärst auch ertrunken, wenn das Schiff im Londoner Hafen gesunken wäre«, bemerkte Daphne. »Schließlich kannst du nicht schwimmen, und bevor sie alle Leute vom Oberdeck gerettet hätten, wärst du längst abgesoffen.«
»Du kannst auch nicht schwimmen!«, gab Dorothy zurück. »Du wärst genauso ertrunken wie ich!«
Daphne lachte. »Wär ich nicht! Ich bin mal in die Themse gefallen, als ich klein war, bin aber wieder rausgepaddelt. Dreck schwimmt oben, hat mein Alter gesagt ...«
Helen beschloss, das Gespräch nicht nur aus erzieherischen Gründen zu unterbrechen.
»Das hat dein Vater gesagt, Daphne!«, stellte sie richtig. »Auch wenn er sich damit nicht gerade vornehm ausgedrückt hat. Und nun hör auf, den anderen Angst zu machen, sonst haben sie gleich keinen Hunger mehr aufs Frühstück. Das können wir uns jetzt nämlich holen. Also, wer geht zur Kombüse? Dorothy und Elizabeth? Sehr schön. Laurie und Mary sorgen für Wasser zum Waschen ... oh doch, meine Damen, wir waschen uns! Eine Lady hält auch auf Reisen auf Ordnung und Sauberkeit!«
Als Gwyneira eine Stunde später über das Zwischendeck lief, um nach ihren Pferden zu sehen, bot sich ihr ein seltsames Bild. Der Außenbereich vor den Kabinen war fast menschenleer, die meisten Passagiere waren wohl noch mit dem Frühstück oder ihrem Trennungsschmerz beschäftigt. Doch Helen und die Mädchen hatten ihren Tisch und ihren Stuhl herausgeschleppt. Auf Letzterem thronte Helen, stolz und aufrecht, jeder Zoll eine Lady. Vor ihr auf dem Tisch befand sich ein improvisiertes Gedeck, bestehend aus einem Blechteller, einem verbogenen Löffel, einer Gabel und einem stumpfen Messer. Dorothy war dabei, Helen von imaginären Servierplatten die Speisen aufzutragen, während Elizabeth mit einer alten Flasche hantierte, als wäre edler Wein darin, den sie stilvoll kredenzte.
»Was tut ihr denn da?«, fragte Gwyneira verblüfft.
Dorothy knickste beflissen. »Wir üben, wie man sich bei Tisch aufführt, Miss Gwyn ... Gwyn ...«
»Gwyneira. Aber ihr könnt gerne Gwyn sagen. Und jetzt sagt mir noch mal – ihr übt was? « Gwyneira schaute Helen argwöhnisch an. Gestern hatte die junge Gouvernante ganz normal auf sie gewirkt, aber womöglich war sie doch nicht recht bei Trost.
Helen errötete leicht unter Gwyneiras Blick, fasste sich aber schnell.
»Ich musste heute Morgen feststellen, dass die Tischmanieren der Mädchen sehr zu wünschen übrig lassen«, sagte sie. »Im Waisenhaus muss es zugegangen sein wie im Raubtierkäfig. Die Kinder essen mit den Fingern und stopfen sich die Backen voll, als wäre es ihre letzte Mahlzeit auf Erden!«
Beschämt schauten Dorothy und Elizabeth zu Boden. Daphne beeindruckte der Tadel weniger.
»Wahrscheinlich hätten sie sonst nichts abbekommen«, meinte Gwyneira. »Wenn ich sehe, wie mager die Mädchen sind ... Aber was soll das werden?« Noch einmal wies sie auf den Tisch. Helen korrigierte die Lage des Messers ein wenig.
»Ich zeige den Mädchen, wie man sich bei Tisch wie eine Dame verhält, und vermittle ihnen nebenbei die wichtigsten Fertigkeiten einer geschickten Bedienung«, bemerkte sie dabei. »Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sie in größeren Haushalten aufgenommen werden, wo sie die Möglichkeit hätten, sich als Zofe, Köchin oder
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