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Im Land des Regengottes

Im Land des Regengottes

Titel: Im Land des Regengottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gina Mayer
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durfte man das Gebüsch nicht aus den Augen lassen. Also schlossen die Nama einen weiten Kreis um das Versteck, den sie im Laufe des Tages immer enger zogen. Bis zum Abend mussten sie das verwundete Tier erlegen, damit es nicht im Schutz der Dunkelheit entfloh und dann von einem Raubtier erlegt wurde.
    Es waren mehr als zwanzig Jäger, die dem Eber auflauerten. Aber als er ausbrach, suchte er sich ausgerechnet die Stelle aus, an der Petrus und sein Vater standen. Es war ein fataler, ein tödlicher Zufall. Vielleicht war es auch gar kein Zufall. Vielleicht spürte das angeschossene Tier instinktiv, dass diese beiden Glieder die Schwachstellen in der Kette waren.
    Als der Eber plötzlich auf ihn zustürmte, konnte sich Petrus kaum noch auf den Beinen halten. Seine Beine zitterten vor Müdigkeit und Erschöpfung. Die Wirkung des Alkohols war inzwischen verflogen, sein Körper verlangte nach mehr Gift, neuem Schnaps. Bevor er Pfeil und Bogen nach oben reißen konnte, hatte das verzweifelte Tier ihn auch schon erreicht. Petrus versuchte, aus dem Weg zu springen – was kümmerte ihn die Jagd, was kümmerte ihn dieser idiotische Eber –, dabei prallte er gegen seinen Vater und schmiss ihn um. Der Eber stürzte sich auf sie und riss Petrus’ Vater die Halsschlagader auf.
    Petrus selbst hatte durch den Sturz die Besinnung verloren. Als er wieder aufgewacht war, war sein Vater verblutet.
    »Ich habe trotzdem nicht mit dem Saufen aufgehört«, erzählte er jetzt. »Obwohl die anderen Männer furchtbar wütend waren. Obwohl meine Mutter geweint hat. Ich habe immer weitergetrunken, weil ich meinen Vater und alles vergessen wollte. Ich bin nach Windhuk geflohen, aber meine Schuld ist mir gefolgt. Sie verfolgt mich immer noch und erinnert mich daran, dass ich meinen Vater umgebracht habe.«
    »Aber dann bist du doch noch von deiner Sucht losgekommen. Hat dir die Angst vor dem Tod die Kraft dazu gegeben?«
    »Nein, ich hatte keine Angst. Aber ich habe plötzlich verstanden, dass der Tod meines Vaters sinnlos gewesen wäre, wenn ich mich zu Tode gesoffen hätte. Ich war es ihm schuldig, mich zu ändern. Verstehst du?«
    Wie sollte ich das nicht verstehen? Mir ging es doch ganz genauso. So wie Petrus seine Schuld nach Windhuk gefolgt war und ihn seitdem nicht mehr losgelassen hatte, so verfolgte auch mich mein schlechtes Gewissen, seit ich Bethanien verlassen hatte. Und wie Petrus begriff auch ich jetzt, dass ich mein Leben zu einem sinnvollen Ziel führen musste. Das war ich meiner Mutter schuldig.
     
    Als wir uns wieder auf den Weg machten, war ich erneut so durstig, als hätte ich den ganzen Tag nichts getrunken.
    »Wir finden bald eine Wasserstelle«, versprach mir Petrus. »Es hat doch so viel geregnet.«
    Ich selbst hatte längst die Orientierung verloren, aber er schien genau zu wissen, wohin wir gehen mussten. Immer wieder blieb er stehen, um am Wegrand eine Wurzel auszugraben oder ein paar Samenkapseln von einem Busch zu streifen, die er mir dann gab. Ich aß, was er mir anbot. Alles war besser als dieser bohrende, quälende Durst. Solange ich kaute, konnte ich ihn vergessen. Aber sobald ich die Bissen hinunterschluckte, wurde mein Mund wieder trocken und meine Zunge klebte am Gaumen.
    Einmal sammelte Petrus ein paar dicke weiße Maden von einem Baum. »Hier.« Er streckte mir eine Handvoll krabbelnder, zappelnder Würmer hin. »Das ist gut gegen den Durst.«
    »Pfui Teufel!«, rief ich angewidert. »Da würde ich doch lieber sterben!«
    »Dann eben nicht«, grinste er, während er die Maden fallen ließ.
    »Sollte das ein Scherz sein?«, fragte ich empört. »Hättest du etwa ruhig dabei zugesehen, wenn ich die Maden gegessen hätte?«
    »Sie sind nicht giftig«, beruhigte er mich. »Gekocht esse ich sie gerne. Aber nicht lebendig.« Er verzog das Gesicht. »Ich bin doch kein Barbar.«
    Das Wort hatte er sich jedenfalls gemerkt.
    Das Wasserloch, das wir am Nachmittag erreichten, war schon von Weitem sichtbar. Die Bäume und Büsche leuchteten so grün und üppig übers Land, dass ich an unseren Garten in der Kohlstraße denken musste. Plötzlich sah ich Trude vor mir, in dem hellgrauen Kleid und der schwarzen Schürze, die sie auch bei meinem Abschied getragen hatte. Und Bertram, der mich traurig anblickte. »Warum hast du mir nie mehr geschrieben?«, fragte er. »Ich habe auf dich gewartet, Tag um Tag um Tag. Das Herz hast du mir gebrochen.«
    Ich beschleunigte meine Schritte, um der Erinnerung zu entkommen. Und um

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